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Zwischen Talent und Drama: Die Karriere des Alexander "Sascha" Zverev

Roman Bartz
Alexander Zverev im Porträt: 2014 feierte er bei den Australian Open (Junioren) seinen ersten Titelgewinn - 2023 seinen letzten in Hamburg.
Alexander Zverev im Porträt: 2014 feierte er bei den Australian Open (Junioren) seinen ersten Titelgewinn - 2023 seinen letzten in Hamburg.Profimedia/Flashscore
Vorsichtig schritt er zur Mitte des Platzes, entschlossen sich bei den wenigen Zuschauern, bestehend aus Journalisten, anderen Sportlern und Trainern, auf dem Center Court des Ariake Tennis Parks zu bedanken. Doch der Blick ging in den Nachthimmel von Tokio, dann vergrub er das Gesicht in beiden Händen, sackte in die Knie und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Nach wenigen Sekunden raffte er sich auf, reckte seinen Schläger in die Höhe, blickte gen Publikum und drehte Richtung Bank ab. Dort angekommen, ergriff er ein weißes Handtuch, hielt es sich vor sein Gesicht – doch auch das Handtuch vermochte die Tränen nicht zu verbergen. Sie galten dem emotionalsten und zu dem Zeitpunkt wichtigsten Sieg in Alexander Zverevs Karriere, über den scheinbar unbezwingbaren Novak Djokovic im Halbfinale des olympischen Tennisturniers. Am Tag darauf ließ die deutsche Nummer eins im Finale gegen Khachanov einen weiteren Sieg folgen. Diesmal flossen keine Tränen – jedenfalls auf dem Platz – Zverev strahlte, ballte die Faust und fragte sich, was er alles auf sich nehmen musste, um als erster deutscher Tennisspieler olympisches Gold im Einzel feiern zu dürfen.

Alexander "Sascha" Zverev hat viele Widrigkeiten erlebt, viele davon selbstverschuldet, und als er den heiß ersehnten ersten Grand-Slam-Titel vor Augen hatte, erlitt er die schwerste Verletzung seiner Karriere. Doch reisen wir zunächst dahin zurück, wo alles begann: in die zweitgrößte Stadt Deutschlands, Hamburg. Hier erblickte Alexander "Sascha" Zverev am 20. April 1997 das Licht der Welt. Eigentlich blieb dem kleinen Sascha kaum etwas anderes übrig, als früh eine Karriere im professionellen Tennis anzusteuern. Der Hamburger mit russischen Wurzeln hat gleich drei enge Familienmitglieder, die sein Talent teilen und fördern: Papa Alexander war einst der beste Tennisspieler der Sowjetunion, Mama Irina war dort Nummer 4 und Bruder Mischa, geboren am 22. August 1987 in Moskau, schaffte es bis auf Nummer 25 der Welt. Bevor die Eltern von Mischa und Sascha ein Arbeitsvisum in Deutschland beantragten, war das Leben in der Sowjetunion für sie kein schlechtes. Doch dann öffnete sich der Eiserne Vorhang. Die Sowjetunion zerfiel, die Inflation kam, und mit ihr verloren die Ersparnisse der jungen Familie Zverev ihren Wert. Fest entschlossen, einen Neuanfang zu wagen, entschieden sie sich dazu, alles hinter sich zu lassen. Im Winter 1991 zogen sie zunächst nach Mölln, eine Kleinstadt im Südosten Schleswig-Holsteins, und 1995 schließlich nach Hamburg.

Der kleine Sascha auf den großen Tennisplätzen dieser Welt

Dort begann der kleine Sascha im Alter von drei Jahren mit dem Tennisspielen: "Eines Tages, als ich ein Jahr und fünf Monate alt war, nahm ich einen kleinen Schläger in die Hand und fing an, den Ball durch unsere Wohnung zu schieben, und seitdem nahmen sie mich mit auf den Platz – damals hat es mir Spaß gemacht und das macht es mir noch immer." Als er fünf Jahre alt war, begann stets eines der Familienmitglieder, mindestens eine halbe Stunde am Tag mit ihm Tennis zu spielen und nahm ihn bereits mit auf Tour – auf die größten Tennisanlagen der Welt. Ob in der Rod Laver Arena mit Federer oder auf dem Court Philippe-Chatrier mit Nadal, der kleine Sascha spielte bereits dort, wo er später als Profi hinwollte."Er hat schon als Kleinkind mit vielen Stars zum Spaß gespielt, hat immer gefragt, ob er ein paar Bälle spielen kann. Mal mit Rafael Nadal, mal mit Roger Federer", erzählt Mutter Irina. Bevor er mit dem Schweizer Altmeister die ersten Bälle spielte, entdeckte er sein Idol Roger Federer beim damaligen Masters in Hamburg, Sascha ergriff er die Chance und fragte ihn nach einem Autogramm – damals auf Englisch, weil er noch nicht wusste, dass Schweizer auch Deutsch sprechen können. 

In seiner Kindheit frönte Zverev auch dem Hockey und Fußball. Dennoch traf er im Alter von zwölf Jahren die Entscheidung, sich ausschließlich auf Tennis zu fokussieren, nachdem er bei einem renommierten internationalen Juniorenturnier in Florida bereits in der ersten Runde ausgeschieden war. Laut Mutter Irina passte die Reaktion zu seinem Charakter. Noch allzu gut kann sie sich daran erinnern, wenn sie zusammen Gesellschaftsspiele spielten oder auf dem Tennisplatz standen: "Ich ließ Sascha dann gewinnen, um die Stimmung zu retten", offenbarte Zverevs Mutter, "er wollte am liebsten niemals verlieren." Und daran habe sich bis heute auch nur wenig verändert: "Er will siegen. Das steckt ihm im Blut." Seine Mutter war es auch, die ihn vorrangig trainierte, während sein Vater sich auf die Betreuung seines Bruders konzentrierte. Später sagte Zverev: "Ich glaube, ich habe eine ziemlich gute Technik, die meine Mutter schon in jungen Jahren entwickelt hat, und das ist ihr Verdienst. Vor allem meine Rückhand ist zu 100 Prozent meiner Mutter zu verdanken", erkannte er an. "Meine Mutter hatte einen entspannteren Unterrichtsstil, während mein Vater eine sehr sowjetische Art hatte, körperliche Trainingseinheiten durchzuziehen, bei denen es darum ging, eine bestimmte Anzahl von Wiederholungen zu absolvieren, den Ball im Rhythmus zu schlagen und Punkte schnell zu beenden."

Zverevs erste Schritte und Förderer Stich

2011 nahm der kleine Sascha an seinem ersten ITF-Turnier teil – das sind Turniere, die von Nachwuchsspielern genutzt werden können, um sich für die höhere ATP- und WTA-Tour zu qualifizieren. Nur ein Jahr später gewann er im Alter von 14 Jahren bei einem dieser Turniere seinen ersten Titel. Nachdem er einige weitere ITF-Titel einfahren konnte, folgte sein erstes großes Turnier. Zverev war gerade erst 16 Jahre jung, als er im Junioreneinzel bei den French Open 2013 seinen ersten bedeutsamen Sieg feiern durfte. Er überzeugte mit einem für sein Alter ungewöhnlich harten Aufschlag und präzisen Grundlinienschlägen. Der Weg führte bis ins Finale, wo er allerdings Cristian Garin unterlag. Nachdem Zverev mit seiner Spielweise und dem Erreichen des Junioren-Finals bei den French Open für Aufsehen gesorgt hatte, erhielt der junge Sascha dank Wimbledon-Sieger Michael Stich – der zu dieser Zeit Turnierdirektor in Hamburg war – eine Wildcard. Damit verhalf er Zverev zu seinem Debüt auf der ATP-Tour.

Alexander Zverev bei der Siegerehrung der French Open 2013 (Junioren).
Alexander Zverev bei der Siegerehrung der French Open 2013 (Junioren).Profimedia

Obwohl der Teenager dort in der ersten Runde gegen Roberto Bautista Agut unterlag, erwies sich die gesammelte Erfahrung als von unschätzbarem Wert. Noch heute weist er in Interviews auf Michael Stich als Förderer hin: "Wenn man zurückschaut, war er immer der Erste, der an mich geglaubt hat", so Zverev. Neben Stich und seinen Eltern betont er aber auch stets den Einfluss seines Bruders: "Er kann mir sehr gute Tipps geben, wie man sich auf dem Platz in verschiedenen Momenten gegen die großen Spieler verhält oder was man in den unterschiedlichen Situationen machen muss." 

Das Aufleuchten seines Potenzials

2014 legte er direkt seinen ersten Titelsieg in der Junioren-Einzelkonkurrenz der Australian Open hin, wo er seinem Gegner Stefan Kozlov hoch überlegen war. Danach beschloss der noch immer junge Zverev, sich auf seine Profikarriere zu konzentrieren. Er trat auf der ATP-Challenger-Tour an und gewann seinen ersten Titel bei den Sparkassen Open 2014 in Braunschweig. Mit 17 Jahren und 2 Monaten wurde er der jüngste Spieler, der einen Challenger-Titel seit Bernard Tomic  im Jahr 2009 gewann. Stich hatte gar keine andere Möglichkeit, als ihn erneut mit einer Wildcard für Hamburg auszustatten. Und diesmal zeigte Sascha, was für ein großes Potenzial in ihm steckte. In der ersten Runde räumte er Robin Haase spielerisch und glatt in zwei Sätzen aus dem Weg – gleichbedeutend mit seinem ersten Sieg im Hauptfeld eines ATP-Turniers. In den weiteren Runden schaltete er Michail Jouzhny, Santiago Giraldo und Tobias Kamke aus und erreichte sensationell das Halbfinale, wo er sich gegen David Ferrer – seinen späteren Trainer – geschlagen geben musste. Mit diesem beeindruckenden Turnier stieg er in der Weltrangliste bis auf Platz 161. Er beendete die Saison gar auf Platz 136 der Weltrangliste, nachdem er zu Beginn des Jahres noch außerhalb der Top 600 rangiert hatte.

Der Geruch von Wimbledon

In der Saison 2015 erklomm Zverev einen weiteren Meilenstein in seiner Karriere. Er gewann den nächsten Challenger-Titel beim Turnier in Heilbronn und schaffte damit den Sprung in die Top 100 der ATP-Rangliste. Doch nicht nur im Hinblick auf die Weltrangliste war es für den jungen Sascha ein ereignesreiches Jahr. Seine neue Weltranglistenposition bescherte ihm die direkte Qualifikation für das Hauptfeld von Wimbledon. Er vermochte sich zwar anfangs gegen Teimuras Gabaschwili zu behaupten, doch in der zweiten Runde endete sein Wimbledon-Gastspiel. Kurz zuvor besiegte der junge Sascha allerdings völlig überraschend keinen Geringeren als Novak Djokovic bei der Boodles Challenge Exhibition und beendete das Jahr als Nummer 83 der Weltrangliste. Daher war es keine Überraschung, dass er zum ATP-Newcomer des Jahres 2015 gewählt wurde.

Zverev trifft erneut sein Idol – dieses Mal auf dem Tennisplatz

2016 lief zunächst nicht wie gewünscht, neben zwei Erstrunden-Aus verlor er für das deutsche Davis-Cup-Team überraschend sein Einzel, wodurch Deutschland mit 2:3 gegen Tschechien unterlag. Doch im Juni schlug das Erfolgs- und Stimmungsbarometer nach oben aus, als Alexander Zverev bei den Gerry Weber Open das Finale erreichte. Besonders bemerkenswert war, wie er dieses Ziel erlangte – im Halbfinale besiegte er niemand Geringeren als sein großes Idol Roger Federer. "Vielleicht spielen wir eines Tages gegeneinander", prophezeite Federer damals dem fünfjährigen Sascha. Er sollte recht behalten. Ein emotionaler Sieg für Zverev und ein großer Schritt in der Karriere des damals 19-Jährigen. Zu dem Zeitpunkt war der Maestro Weltranglistendritter, damit besiegte er seinem ersten Top 10-Spieler. Sascha war zudem der jüngste Spieler, der Roger Federer seit Rafael Nadal 2005 besiegte. Das beflügelte für den Rest der Saison. In der zweiten Jahreshälfte wurde Sascha in Washington und Stockholm noch im Halbfinale gestoppt, aber in Russland, beim ATP-Turnier von St. Petersburg, setzte er sich durch und schlug Tomas Berdych und Stan Wawrinka auf dem Weg zu seinem ersten ATP-Titel. Er habe keinen besseren Ort wählen können, sprach er damals in fließendem Russisch ins Mikrofon. Zverev war damit der jüngste Spieler unter den Top 20, seit Novak Djokovic im Jahr 2006.

Triumph über Djokovic beim Endspiel der ATP Finals 

In der Saison 2017 triumphierte Zverev sowohl im Einzel als auch im Doppel bei den Open Sud de France. Danach gewann er einen weiteren Titel bei den BMW Open, bevor er den größten Titel seiner Karriere errang. Der junge Deutsche besiegte Novak Djokovic im Finale des Masters von Rom und holte sich damit seinen ersten ATP-Masters-Titel. Er wurde nicht nur mit 19 Jahren der jüngste Masters-Sieger seit Djokovic im Jahr 2007, sondern schaffte nach diesem Sieg auch den Sprung in die Top 10! Der Djoker sollte auch im darauffolgenden Jahr eine entscheidende Rolle in der Karriere des Alexander „Sascha“ Zverev einnehmen.

Sascha konnte sich das ganze Jahr über in den Top 5 halten. Doch obwohl er bei anderen Turnieren gut abschnitt, verlor er bei Grand-Slam-Turnieren immer wieder in der ersten Runde. Hier deutete sich bereits ein ihn im weiteren Verlauf seiner Karriere begleitendes „Grand-Slam-Trauma“ an. Nichtsdestotrotz qualifizierte er sich über seinen Weltranglistenplatz sowohl für die Next Gen Finals – aufgrund seines nach wie vor jungen Alters – als auch für die ATP Finals und entschied sich für letztere. Eine gute Entscheidung, die ihm einen der größten Gänsehautmomente bescherte: 

Das Duell mit Djokovic, einem der erfolgreichsten Tennisspieler aller Zeiten, war nicht nur ein Kampf um den Turniersieg, sondern auch ein Kräftemessen zwischen der etablierten Tenniselite und einem aufgehenden Stern. Zverev betrat die O2 Arena in London als klarer Underdog, aber von Beginn an zeigte er keine Anzeichen von Nervosität oder Respekt vor dem großen Namen auf der gegenüberliegenden Seite des Netzes. Zverev besiegte den Weltranglistenersten mit 6:4 und 6:3 und holte sich den zehnten und größten Titel seiner Karriere. Damit war er der erste Deutsche, der das Saisonfinale seit Boris Becker im Jahr 1995 gewonnen hat, und der jüngste seit Djokovic im Jahr 2008. Drei Jahre später konnte er diesen Erfolg wiederholen. Im Endspiel der ATP-Finals von Turin besiegte Zverev, seinen langjährigen Dauerrivalen Daniil Medvedev

Das Grand-Slam-Trauma

Doch für einen gleichermaßen ehrgeizigen wie anspruchsvollen Athleten wie Zverev ist da ein schmerzvoller weißer Fleck in seiner Vita: ein Grand-Slam-Titel. Mit fortwährender Dauer ist sein Streben nach einem Grand-Slam-Erfolg zu einer Obsession geworden. In den Presseberichten über seine Person schwang trotz aller Erfolge dieser Makel stets mit. Auch Zverev selbst zeigte sich ungeduldig und unzufrieden, je länger er als Thronerbe der Altmeister auf seinen ersten Grand-Slam-Titel warten musste. Zunehmend machte er durch emotionale Ausbrüche, das Zertrümmern seines Schlägers, Flüche, Beschwerden beim Schiedsrichter und das Werfen von Wasserflaschen von sich reden. "Ich habe auch Druck auf mich selbst ausgeübt und war nicht sehr geduldig", gestand er kürzlich über diesen Abschnitt seiner Karriere. Doch genau die Altmeister, die er beerben sollte, wurden zu seinem Problem. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mitanzusehen, wie die stets gleichen drei Spieler – Rafael Nadal, Novak Djokovic oder eben Roger Federer, die bedeutenden Titel unter sich aufteilten. Bei den US Open 2020 gelang es den jungen Wilden erstmals, einen Grand-Slam-Titel ohne Beteiligung der drei Altmeister auszuspielen. Doch Sascha unterlag dem Österreicher Dominik Thiem im Finale, dabei hatte Zverev schon mit zwei Sätzen geführt und verlor auf denkbar ungünstige Weise in fünf Sätzen.

Die Leiden des jungen Zverev

Im Juni 2022 erlebte Zverev den schwersten Moment seiner Karriere und ergänzte seine ohnehin schon ungewöhnliche Grand-Slam-Geschichte um ein dramatisches Kapitel. Im Halbfinale der French Open lieferte er sich mit Nadal – dem König von Roland Garros – über drei Stunden einen offenen Schlagabtausch. Zverev spielte überragendes Tennis, aber streute immer wieder leichte Fehler ein. Der erste Satz ging unglücklich im Tiebreak verloren, auch im zweiten Satz stand der Tiebreak kurz bevor. Zverev in starker Form – auch auf Sand – hetzte mit präzisen Grundlinienschlägen Nadal über den Platz. Doch als er selbst einen Ball erlief, knickte Zverev mit dem rechten Fuß so schlimm um, dass ein Weiterspielen unmöglich war. Mit Tränen in den Augen verließ er den Court Philippe-Chatrier, sitzend. Im Rollstuhl. Der Tiefpunkt. "Das ist wirklich sehr hart, er hat unglaublich gespielt. Ich weiß, wie sehr er um einen Grand-Slam-Sieg kämpft. Er hat ein unglaubliches Turnier gespielt", erklärte Nadal nach dem Match. Sieben Bänder im Sprunggelenk waren gerissen. Die Verletzung war so schwer, dass Zverev operiert werden musste. Er war tief verunsichert: "Ich hatte so viel Angst, dass es für mich auf dem Niveau vorbei ist."

Sascha reift zu Alexander Zverev

Doch es war nicht vorbei. Im Januar 2023 meldete er sich zurück. In den ersten Matches gegen Spieler, die ihn früher nicht vor Herausforderungen stellten, blieb er chancenlos. Im Vorfeld der letztjährigen Australian Open äußerte er sich zu seinem Leistungsniveau: "Mein Fuß ist gesund, aber ich bin körperlich nicht auf dem Niveau, das ich früher hatte. Ich bin nicht so schnell. Die körperlichen Voraussetzungen sind definitiv nicht mehr so gut wie früher. Ich denke also, dass es noch ein weiter Weg ist, um dieses Niveau zu erreichen." Doch so lange sollte es nicht dauern: Im Juli 2023 siegte er zum zweiten Mal beim Heim-Turnier in Hamburg, nach 2021. Ein halbes Jahr später ist er in Topform und einer der Favoriten auf den Titelgewinn des ersten Grand-Slam des Jahres. Beim United Cup gewann er alle seine Einzelauftritte und glänzte auch im Doppel mit unterschiedlichen Spielpartnerinnen an seiner Seite. Am Ende holte er mit Team Deutschland den Titel. Vielleicht musste Sascha erst das tiefe Tal der Tränen durchlaufen, um als gereifter Alexander Zverev den höchsten Berg zu erklimmen.

Alexander Zverev gewinnt mit Team Deutschland den United Cup.
Alexander Zverev gewinnt mit Team Deutschland den United Cup.AFP

Zwischen Becker und Murray: Der Spielstil Zverevs

Alexander Zverevs Spielstil lässt sich nicht einfach kategorisieren. Er läuft weder seine Gegner in Grund und Boden, noch ist er ein reiner "Hard-Hitter", und genauso wird man seiner Spielqualität nicht gerecht, ihn als Aufschlagmonster zu bezeichnen. Sicherlich ist Zverevs bester Schlag seine beidhändige Rückhand, die er in der Regel mit beeindruckender Kraft und Präzision ausführt. Mit diesem Schlag strebt er oft den entscheidenden Punkt an oder setzt ihn häufig diagonal gespielt ein, um den Gegner ins Laufen zu bringen. Auf diesem guten Rückhandspiel von der Grundlinie und seinen generell kraftvollen Schlägen basiert sein Spielstil.

Der ehemalige Davis-Cup-Teamchef Niki Pilic war vor allem von Zverevs unbändigen Sieges-Willen beeindruckt und zog einen Vergleich mit Boris Becker: "Man kann die Qualität von Sascha mit der von Boris Becker vergleichen. Sascha hat die spielerische Qualität, er besitzt Persönlichkeit. Sein Wille zu gewinnen ist wie bei Boris unmenschlich groß." 

Eine weitere Stärke von Zverev ist zweifelsohne sein Aufschlag. Dank seiner Körperlänge serviert er regelmäßig mit über 200 km/h – in der Spitze auch gern 220 km/h. Dieser mit der Zeit perfektionierte Aufschlag ermöglicht ihm, einen hohen Prozentsatz der Punkte mit dem ersten Aufschlag zu machen – ob Asse oder Gewinnaufschläge. Im Gegensatz zu vielen Spielern auf der Tour beherrscht er inzwischen auch das Serve-and-Volley-Spiel. Trotz seines starken Aufschlages vermied er es früher ans Netz zu kommen, doch Bruder Mischa – einst ein klassischer Serve-and-Volley-Spieler – verhalf ihm zu diesem Spiel. Dabei kommt Zverev auch der einhändig gespielte Rückhand-Slice zugute. Diesen setzt er gelegentlich ein, um dann vor ans Netz zu kommen. Seitdem zählt er auch strategisch zu den Besten auf der Tour.

Bei Returnspielen durchbricht Zverev zu knapp 30 Prozent das Aufschlagspiel seines Gegners. Lediglich Nadal, Djokovic und Medvedev haben bessere Werte. Während der Aufschlagbewegung des Gegners verschiebt der Deutsche gern seine Position um bis zu 1,5 Meter nach vorn und versucht stets, den zweiten Aufschlag seines Gegners aggressiv anzugehen. Mit dieser Art und Weise ähnelt er sehr dem Schotten Andy Murray. Einer der besten Returnspieler der Welt.

Auf der Suche nach mentaler Stabilität

Obwohl sein Aufschlag zu seinen absoluten Vorzügen zählt, verhindert dieser zuweilen den großen Coup. Er riskiert beim zweiten Aufschlag in der Regel viel, das führt zu verhängnisvollen Doppelfehlern. 220 davon leistet er sich im Jahr 2020, mehr als jeder andere Spieler der Tour. Auch seine einhändig gespielte Vorhand ist weniger zuverlässig als sein Rückhandspiel. Obwohl Zverev sie ebenfalls mit ordentlich Zug spielt, zeigt die Vorhand nicht die gleiche Konstanz, was häufig zu Präzisionsproblemen führt. 

Mitunter kommt es noch vor, dass er seine Schläger zerschmettert, er schimpft, er beschwert sich – eben wie ein begnadetes Talent, das noch lernen muss. Zverevs größte Schwäche war bislang seine mentale Stabilität, die auch ein Grund dafür war, noch keinen Major-Titel sein Eigen nennen zu dürfen. Acapulco 2022 war wohl in dieser Hinsicht ein Tiefpunkt. Im Februar 2022 beschimpfte Alexander Zverev den Schiedsrichter und schlug viermal mit seinem Schläger auf seinen Stuhl, nachdem er ein Doppel in Acapulco verloren hatte. Er wurde aus dem Turnier ausgeschlossen, aber die ATP setzte alle weiteren Sanktionen gegen ihn aus, weil er sich in der Folge nichts mehr zuschulden kommen ließ. Doch das war vor seiner schweren Verletzung. Nun scheint er gereift und gefestigt, was auch an seiner Beziehung zu Sophia Thomalla liegen kann – aber das steht auf bzw. in einem anderen "Blatt".