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Mentalität und Widerstandskraft - Was Alexander Zverev noch zur Weltspitze fehlt

Micha Pesseg
Alexander Zverev bei den ATP-Finals 2023.
Alexander Zverev bei den ATP-Finals 2023.Profimedia
Mentale Stärke macht im Tennis oft den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage. Dementsprechend steht die Karriere von Deutschlands Tennis-Hoffnung Alexander Zverev an einem entscheidenden Wegpunkt. Zverev steht vor der Herausforderung, sein Spiel auf das nächste Level zu heben. Dieser Kommentar von Micha Pesseg beleuchtet Zverevs Kampf gegen körperliche Hindernisse, familiäre Dynamiken und mentale Barrieren. Hat er das Zeug, um den Sprung an die absolute Weltspitze zu schaffen?

Angesichts der Umstände hat Alexander Zverev ein außerordentlich starkes Jahr hinter sich. Nach seiner fürchterlichen Verletzung bei den French Open 2022, als er unglücklich ausrutschte und sich dabei sieben Bänder im rechten Fuß riss, musste der Hamburger die Erwartungen an sich notwendigerweise drosseln. 

Die Saison 2023 hielt für Zverev einige Highlights parat. Bei der Rückkehr nach Roland Garros überwand er die traumatischen Erfahrungen aus dem Vorjahr und erreichte das Halbfinale. Am Hamburger Rothenbaum erfüllte sich der 26-Jährige einen Kindheitstraum und holte sich in seiner Heimatstadt den Titel. Auch das Turnier im chinesischen Chengdu Ende September entschied er für sich.

2022 musste Zverev den Centre Court in Paris auf Krücken verlassen.
2022 musste Zverev den Centre Court in Paris auf Krücken verlassen.Profimedia

Doch auch negative Überraschungen waren Teil des vergangenen Jahres. So löst ihn Jan-Lennard Struff zwischenzeitlich als deutsche Nummer eins ab. In 17 Matches gegen Top-10-Profis kassierte Zverev 14 Niederlagen. Bei fünf verschiedenen Turnieren musste er im ersten Match sogleich das Ausscheiden hinnehmen (Doha, Miami, München, Shanghai, Tokio).

Kein Wunder, dass sich manch ein Experte nicht sicher ist, ob Alexander Zverev jemals der dauerhafte Sprung in die absolute Weltspitze gelingen kann. Im Mai urteilte Tennislegende John McEnroe: “Er hat es nicht geschafft, den nächsten Schritt zu tun und große Spiele zu gewinnen.” Der Wimbledon-Sieger von 1992, Michael Stich schloss sich der Kritik an: “Er hat es in den letzten drei, vier Jahren - aus meiner Wahrnehmung heraus - nicht geschafft, sein Spiel wirklich weiterzuentwickeln.”

Der Druck ist enorm

Was fehlt Alexander Zverev eigentlich für den Sprung nach ganz oben? Ist er dazu in der Lage, eines Tages einen Grand Slam zu gewinnen? Die Frage ist berechtigt. 

Er ist die größte deutsche Tennis-Hoffnung seit fast 30 Jahren. 21 Titel stehen bereits auf seiner Habenseite. Damit hat er etwa Tommy Haas bereits übertroffen, auch die von Boris Becker aufgestellte deutsche Bestmarke (49 Titel) ist nicht unerreichbar. Im Juni 2022 stand Zverev auf dem Höhepunkt seines Schaffens und lag im ATP-Ranking auf Rang zwei.

Als er 2016 in Halle/Westfalen Roger Federer ausgerechnet auf Rasen in die Knie zwang, schien der Weg an die Spitze vorgezeichnet. Zahlreiche Glückwünsche prasselten auf den damals 19-Jährigen ein. Gleichzeitig wuchs der mediale Druck. Die New York Times nannte ihn “Deutschlands nächsten Tennis-Star”. Im anschließenden Endspiel zog er allerdings gegen Landsmann Florian Mayer den Kürzeren.

Die Erwartungen an Alexander Zverev in Deutschland sind riesig.
Die Erwartungen an Alexander Zverev in Deutschland sind riesig.Profimedia

Zverev überzeugte schon damals durch sein kraftvolles Service. Aufschläge mit über 200 km/h sind beim Hamburger keine Seltenheit. Durch seine Körpergröße 1,98 Metern und gute Beinarbeit entwickelt er auf der Grundlinie eine enorme Reichweite. Anlagen, die ihm schon zahlreiche Siege bescherten.

Aus technischer Sicht hat er aber auch einige Schwächen. Wird seine Vorhand mit viel Tempo angespielt, landet der Ball nicht selten im Aus. Auch gegen Spieler, die mit viel Slice arbeiten und beim Return sowohl in der Höhe als auch der Tiefe variieren, zeigte er bereits Schwächen.

Die größte Hürde für Alexander Zverev ist jedoch zweifelsohne die mentale Komponente. Er stammt aus einer tennis-verrückten Familie. Sein Vater ging in den 1980er-Jahren im Davis Cup für die Sowjetunion auf Titeljagd, auch seine Mutter und Bruder Mischa spielten auf Profi-Niveau. Zur Anfangszeit seiner Karriere war das selbstverständlich ein großer Vorteil. 

Alexander Zverev: Anfällig für Kritik

Einige Experten betrachten es allerdings kritisch, dass sich “Sascha” bis heute nicht von seiner Familie emanzipiert hat. Im vergangenen Mai trennte sich Zverev etwa von Trainer Sergi Bruguera und beförderte wieder seinen Vater zum Chef. “Mein Vater, ich und Sergi haben nicht dieselbe Meinung, wie ich Tennis spielen sollte nach der Verletzung”, lautete Zverevs Begründung. Auch im Urlaub fehlt die Familie nicht. 

Raum für externe Einflüsse lässt der Hamburger nur ungern zu. Das kritisierte auch Michael Stich. Dessen Analyse bezüglich einer fehlenden Weiterentwicklung bezeichnete Zverev als “dumm”, immerhin habe er “sieben Monate einen Stiefel getragen. Es ist schwierig, sich weiterzuentwickeln, wenn man nicht gehen kann.” 

Michael Stich übte harte Kritik an Alexander Zverev.
Michael Stich übte harte Kritik an Alexander Zverev.Profimedia

Laut Stich habe Zverev seine Worte fälschlicherweise als "anprangern und kritisieren" verstanden. Tatsächlich seien die Urteile vieler Beobachter in den meisten Fällen gut gemeint, man wünsche sich "ja eigentlich, dass er diesen nächsten Schritt macht, damit er ein noch besserer Tennisspieler wird.” Auch an dieser Diskussion macht sich Zverevs Ressentiment gegenüber Feedback von außen bemerkbar. 

Medial wird sein Umfeld oft als “kleiner, verschworener Kreis” beschrieben. Mit den Beliebtheitswerten von Boris Becker oder Steffi Graf hält er in Deutschland nicht mit. Als er im Frühjahr 2022 im mexikanischen Acapulo ausrastete, den Schiedsrichter beschimpfte und mit dem Schläger gegen dessen Stuhl schlug, wurde er disqualifiziert. Eine Entschuldigung für sein impulsives Verhalten änderte nichts daran, dass er zu diesem Zeitpunkt viele Sympathiewerte verloren hatte.

Ehrgeiz und Verbissenheit: Ein schmaler Grat 

Nicht selten grenzt sein Ehrgeiz an Verbissenheit. Zverevs war 2023 fast jede Woche im Einsatz, 17 verschiedene Länder bereiste er in den vergangenen Monaten. Ein Umstand, den auch Deutschlands größte Tennisikone Boris Becker als möglichen Schwachpunkt ausmachte. “Du kannst nicht jede Woche frisch sein. Da muss man für sich die Prioritäten finden und dann auch mal eine Pause machen. Pausen gehören zum Training. Nur in einem gesunden Körper, mit einem gesunden Geist und einer gesunden Seele kann man sein bestes Tennis spielen”, stelle Becker im Oktober gegenüber “Eurosport” fest. 

Das hohe Anspruchsdenken führt dazu, dass er mit sich selbst teils extrem hart ins Gericht geht. Nach seinem frühen Aus in Tokio gegen Jordan Thompson stellte er fest: “Es gibt nicht, was ich gut gemacht habe. Heute habe ich schrecklich gespielt.” Worte, die einem stabilen Selbstbewusstsein nicht unbedingt förderlich sind. Nach seinem Aus bei den ATP-Finals in Turin haderte er lange mit einem verschlagenen Volley gegen Daniil Medvedev. Auf die daraus resultierenden Mätzchen der anwesenden Journalisten ging Zverev auch noch Tage später ein.

Highlights ATP-Finals 2023: Medvedev vs. Zverev.
Flashscore

Resilienz und psychische Robustheit spielen im Profi-Tennis allerdings eine gewichtige Rolle - insbesondere in den Duellen gegen die Weltspitze. Bestes Beispiel dafür ist die ewige Fehde mit “Erzfeind” Medvedev. Der Russe lebt dank einiger Mind Games wohl mietfrei in Zverevs Kopf - und liegt wohl auch dank dieser psychologischen Schachzüge im H2H 11:7 in Führung.

Trotzdem verweigerte sich Zverev konsequent der Zusammenarbeit mit einem Mentaltrainer. Sein etwas engstirniges Urteil über Sportpsychologen: “Ich habe das Gefühl, die machen mehr Probleme, als es sie wirklich gibt.” Schade eigentlich - denn im mentalen Bereich hat Alexander Zverev definitiv das größte Steigerungspotenzial.

Ein Kommentar von Micha Pesseg.
Ein Kommentar von Micha Pesseg.Flashscore