Marokko schreibt Geschichte und beendet Ronaldos WM-Karriere
Es ist nicht eindeutig überliefert, ob Trainer Fernando Santos von den Diskussionen um Cristiano Ronaldo genervt war oder ob ihm das Gerücht, CR7 hätte Katar verlassen wollen, als willkommenes Ablenkungsmanöver gedient hat. Gonçalo Ramos hatte sich jedenfalls seinen Platz in der portugiesischen Startelf erarbeitet, der vereinslose Superstar musste sich – wie bereits gegen die Schweiz – mit einer Ersatzrolle begnügen. Auch nach seiner Einwechslung sorgte der einstige Weltklasse-Spieler für keine entscheidenden Impulse.
Aufseiten Marokkos waren vor Spielbeginn zwei wichtige Akteure schmerzlich vermisst worden: auf Aguerd und Mazraoui musste Erfolgstrainer Walid Regragui verzichten. Statt den beiden Leistungsträgern begannen in der Viererkette Jawad El Yamiq und Yahya Attiat-Allah. Die Löwen von Atlas visierten den Einzug ins WM-Halbfinale an. Ein historisches Vorhaben: denn noch nie stand in einem solchen ein afrikanisches Team. Bis heute.
Erste Halbzeit: Marokko lässt wenig zu und geht in Führung
Rúben Neves ließ sich gerne auf Höhe seiner Abwehrkette fallen, um mit langen Zuspielen seine Offensivkollegen in Szene zu setzen. Favoriten- und Außenseiterrolle waren ebenso klar verteilt, wie der Ballbesitz: nach zehn Minuten lag dieser zu 83 % bei den Iberern. Allerdings wollten sich die Nordafrikaner nicht bloß auf Defensivaufgaben konzentrieren. Nach der ersten großen Gelegenheit für João Félix (5.) – Achtelfinalheld Bono parierte stark – kam Marokko gewissermaßen im Gegenzug zu zwei Halbchancen. Doch die von Routinier Pepe (39 Jahre) organisierte Viererkette zeigte sich zunächst kompromisslos und ließ Sofiane Boufal bzw. Youssef En-Nesyri wenig Luft zum Atmen.
Regraguis Team kontrollierte mit dichter Staffelung und strenger Disziplin das Zentrum, Portugal suchte den Weg über die Flanke. Häufig fand der Ball seinen Weg zum an der Seitenlinie positionierten Raphaël Guerreiro. Der Dortmunder agierte häufig zu hastig, als dass seinen zahlreichen Hereingaben den richtigen Abnehmer gefunden hätten. In der 18. Minute fuhr Marokko wieder einen Konter, der Distanzversuch von Hakim Ziyech ging klar neben den portugiesischen Kasten. Allmählich kam das große Überraschungsteam dieser WM auf den Geschmack, der Abwehrblock wagte bisweilen, den gegnerischen Spielaufbau früh zu stören.
In der 31. Minute kam die Kirsche zu Félix, mit einem schönen Außenristschuss zwang er die Innenverteidigung zu einer Klärungsaktion. Für Regraguis Mannen keineswegs ein Signal, sich doch wieder auf die Abwehrarbeit zu konzentrieren. Weiterhin versuchte Marokko, nach Ballgewinn das Spielfeld schnell zu überbrücken und über Umschaltsituationen zu Torgelegenheiten zu kommen. Einen weiten Pass von Kollege Ziyech hatte Sturmspitze En-Nesyri noch nicht erwischt, nach 42 Minuten passte jedoch alles zusammen.
In La Liga konnte En-Nesyri 2022/23 noch keinen einzigen Treffer erzielen, bei der WM in Katar schlug er bereits zum zweiten Mal zu. Er verwertete eine Flanke von Attiat-Allah, Portugals Torhüter Diogo Costa patzte beim Versuch, dem marokkanischen Stoßstürmer die Kugel wegzuschnappen. Wenngleich Portugal das Spiel mit Ball dominiert hatte, plötzlich roch es im vorwiegend von marokkanischen Fans besiedelten al-Thumama Stadium nach der nächsten Sensation – auch, weil Bruno Fernandes mit einem frechen Versuch aus spitzem Winkel nur die Latte traf. Die Halbzeitführung für die Nordafrikaner war durch ein leichtes Chancenplus vertretbar.
Zweite Halbzeit: Geschwächte Marokkaner mit nächster Sensation
In Minute 49 bügelte Torhüter Costa seinen Fehler aus, nach einem Kopfball reagierte er mit einem starken Reflex. Fernando Santos hatte zur Halbzeit noch auf Wechsel verzichtet, nun hatte der 68-Jährige reichlich ertragen. Cristiano Ronaldo wurde eingewechselt, der alternde Superstar sollte die Wende bringen. Der Joker ohne Wirkung. Dass der für Regrauis Team essenziell wichtige Abwehrchef Romain Saïss wenig später verletzungsbedingt nicht weitermachen konnte, erleichterte den Portugiesen fortan den Arbeitstag nachweisbar.
Portugals Chancen wurden zahlreicher und gefährlicher, Marokko suchte nach Entlastung in der Offensive. Der Aufgabenbereich von Mittelfeldmann Sofyan Amrabat wurde ausgeweitet, er verstärkte die inzwischen fünf Mann umfassende Defensivlinie. Fernandes hatte den Ball aus günstiger Position am Fuß, sein Abschluss verfehlte das marokkanische Tor aber deutlich (61.). Portugals Rechtsverteidiger Diogo Dalot beteiligte sich entgegen seiner Berufsbezeichnung fast ausschließlich an Angriffsbemühungen, selten landeten seine Hereingaben dort, wo sie hinsollten.
Die Löwen vom Atlas bereiteten sich auf eine Abwehrschlacht vor. Auch der eingewechselte Rafael Leão war bemüht, neuen Schwung ins Spiel zu bringen. Marokko löste die Herausforderung clever – die Offensivarbeit wurde anfänglich nicht eingestellt. Erst als mit Hakim Ziyech der nächste Schlüsselspieler vom Platz humpelte, fokussierte sich Regraguis Mannschaft ausschließlich auf ihr charakteristisches Spezialgebiet. Die Abwehrarbeit rückte in den totalen Fokus, teils wurde der Ball nur mehr völlig ziellos in die gegnerische Hälfte gedroschen.
Kurz nachdem acht Minuten Nachspielzeit verkündet worden waren, kam ausgerechnet Ronaldo frei vor Bono zum Abschluss. Mit einer starken Parade verhexte der marokkanische Schlussmann erneut ein ganzes Land und beendete die WM-Karriere von Cristiano Ronaldo. Dass Walid Cheddira nach einem dummen Foul an João Félix Gelb-Rot zu sehen bekam (90,+3), änderte nichts an der nächsten und der mit Sicherheit bislang größten Sensation der WM 2022: Marokko steht als erste afrikanisches Land überhaupt im Halbfinale einer Fußball-Weltmeisterschaft.
Spieler des Spiels: Bono
Auch wenn alle Stricke reißen würden, er würde immer noch zuverlässig auf seinem Posten stehen und Marokko im Spiel halten: Marokkos Torhüter Bono hielt trotz eines massiven portugiesischen Ansturms in Hälfte zwei ohne gröbere Schwierigkeiten die Null. Dieser Mann benötigt kein Elfmeterschießen, um zu glänzen.