Pariser Olympia-Historie: Vom Taubentod zur Geburtsstunde
Pierre de Coubertin überkam noch viele Jahre später kaltes Grausen. "Es ist ein Wunder, dass die Olympische Bewegung dieses Schauspiel überlebt hat", erinnerte sich der Vater des modernen Olympias einigermaßen entsetzt an die Auflage des Jahres 1900 in seiner Heimatstadt Paris.
Jenes Sommersportfest, das im Frühling begann und im Herbst endete, verkam zur schieren Groteske. Wenn am 26. Juli an der Seine zum dritten Mal Olympische Spiele beginnen, erinnern sich die Franzosen deshalb lieber an die fabelhafte Zweitausgabe 1924 als an die irrwitzige Premiere.
"Die Spiele litten unter miserabler Organisation und Vermarktung, dauerten fünfeinhalb Monate und fanden oftmals an völlig unpassenden Schauplätzen statt", heißt es in der Encyclopaedia Britannica über die 1900er-Spiele: "Bei der Leichtathletik landeten die Hämmer in den Bäumen, als Hürden wurden abgebrochene Telefonmasten benutzt." Mon dieu!
Wildes Durcheinander
Anders als 1896 in Athen war den zweiten modernen Spielen anzumerken, dass sie als Begleitprogramm zur Pariser Weltausstellung konzipiert wurden. Bei der "Expo" in der flirrenden Zeit der Jahrhundertwende wollte sich Frankreich als modernes Musterland inszenieren. Der elf Jahre zuvor eröffnete Eiffelturm als gigantisches Phallussymbol nationalen Aufschwungs entsprach dem Geist der Zeit. Dem Geist Olympias blieb da nur eine Nebenrolle.
"Internationale Wettbewerbe der Leibesertüchtigung und des Sports" wurden - ohne Eröffnungs- oder Schlussfeier - zwischen dem 14. Mai und dem 28. Oktober ausgetragen, das Label "olympisch" fehlte oftmals. "Vielen Sportlern war daher zu Lebzeiten nicht bewusst, dass sie damals an Olympischen Spielen teilgenommen haben", hielt der US-Historiker David Wallechinsky fest.
Die Forschung plagt sich noch heute mit Paris 1900. "Die Zahl der teilnehmenden Sportler lag irgendwo zwischen 1.220 und 13.000", schrieb Bill Mallon in seiner "History of the Early Olympics", mittlerweile erkennt das IOC 95 der damaligen Wettbewerbe als offiziell an.
Kraut und Rüben
Aus heutiger Sicht liest sich das Sport- wie ein Jahrmarkts-Programm: Es gab Olympiasieger im Tauziehen, im Cricket UND Krocket, Ballon- und Kutschenrennen wurden ausgetragen. Geschossen wurde auf - heute eher schwer vermittelbar - lebende Tauben.
Wo es Medaillen gab (längst nicht überall), erhielt der Sieger eine silberne, der Zweite eine bronzene, der Dritte nix. Da der Zeitplan höchst undurchsichtig war, blieben Journalisten wie Zuschauer weitgehend fern. Kurzum: Baron de Coubertin schauderte es - berechtigterweise.
24 Jahre lagen zwischen Paris I und Paris II, die bis heute kürzeste Spanne zwischen zwei Spielen am gleichen Ort. De Coubertins ausdrücklicher Wunsch war es, Olympia schnell zurückzuholen - um das 1900er-Desaster vergessen zu machen und sich nach fast drei Jahrzehnten als IOC-Präsident versöhnt zurückziehen zu können.
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Spiele 1924 als "olympische Geburtsstunde"
Letztlich wurde Paris II wegweisend, es war letztlich das erste Olympia wirklich moderner Prägung. "Bei den Spielen 1924 wurden viele Traditionen geboren, die wir heute kennen. Es war eine olympische Geburtsstunde", sagt die Sporthistorikerin Roxane Coche von der University of Florida.
Das Zeremoniell der Abschlussfeier mit dem Hissen der drei Flaggen - IOC, alter Gastgeber, kommender Gastgeber - feierte 1924 Premiere, das olympische Motto "citius, altius, fortius" (schneller, höher, stärker) entstand, der Sportarten-Kanon war dem heutigen sehr ähnlich. Und es war das erste Olympia weltweiter Stars: Johnny Weissmüller, Paavo Nurmi oder Uruguays Fußballikone Jose Leandro Andrade begeisterten wahre Zuschauermassen.
Das Erbe von 1924 wird 100 Jahre später noch gegenwärtig sein: Im einstigen Hauptveranstaltungsort, dem Stade Olympique de Colombes, finden 2024 die Hockey-Turniere statt.
Letzten Endes irrte Baron de Coubertin also in seiner Sorge um die olympische Zukunft nach 1900: Das Chaos unter dem Eiffelturm sollte eines der kleineren Probleme der Bewegung bleiben.