Kommentar: Völlig verdientes Pfeifkonzert – Deutschland braucht einen Kurswechsel
66 Prozent Ballbesitz gegen die Ukraine. 67 Prozent gegen Polen. 58 Prozent gegen Kolumbien. 15 Schussversuche gegen die Ukraine – 3 davon aufs gegnerische Tor. Drei Treffer. 27 Schussversuche gegen Polen – 10 davon aufs gegnerische Tor. Null Treffer. 5 Schussversuche gegen Kolumbien – 2 davon aufs gegnerische Tor. Null Treffer.
Diese Zahlen sind ernüchternd. Die deutsche Nationalmannschaft scheint vergessen zu haben, worum es im Fußball geht: Ums Toreschießen. Ums Gewinnen. In den drei zurückliegenden Länderspielen schien Deutschland penibelst darum bemüht, die Grundordnung zu wahren. Man verwechselte Ballbesitz mit spielerischer Dominanz. Wieder einmal.
Ideenlosigkeit bei eigenem Ballbesitz
Es ist unfair, die kollektiv schwache Leistung in den vergangenen Länderspielen an einem Spieler festmachen zu wollen. Dennoch möchte ich ein veranschaulichendes Beispiel nennen: Leroy Sané.
Sané verharrte im rechten Halbraum, ging nur selten den Weg in die Tiefe, mied bei Flanken den kolumbianischen Strafraum. Ohne Ball trabte er über den Rasen.
Ein paar hübsche Kombinationen mit Musiala, alibihalber den ballführenden Außenverteidiger anlaufen und dabei den Passweg auf den Innenverteidiger öffnen. Von einem 51-fachen Nationalspieler, Champions-League-Sieger und fünffachen Meister darf man sich mehr erwarten.
Deutschland bot in eigenem Ballbesitz keine Lösungen an, außer gelegentlich weite Diagonalbälle auf Gosens oder Wolf zu schlagen. Für eine Mannschaft von internationaler Qualität ist das keine echte Bedrohung.
Individuelle Fehler eine Frage der Zeit
Dass man die Spiele optisch dominiert, ohne jemals echte Torgefahr zu erzeugen, ist nervenaufreibend. Das sorgt für Unruhe bei den Fans. Und offensichtlich auch bei den Spielern. Klar, irgendwann schleichen sich Konzentrationsfehler ein. Früher oder späte passieren den Spielern unerklärliche Fehlpässe. Der öffentliche Druck ist enorm.
Frag nach bei Antonio Rüdiger. Hätte Malick Thiaw nicht eine sensationelle Grätsche im Repertoire gehabt, wäre Deutschland schon in Minute 28 in Rückstand geraten. Die Niederlage gegen Kolumbien war völlig verdient und ein Alarmsignal, das nicht ignoriert werden kann.
Findungsphase sollte längst vorbei sein
Hansi Flick lässt nicht zu, dass sich die Mannschaft kennenlernt, einen echten Teamspirit und eine klare Hierarchie entwickelt. Wie er die Thematik um die Kapitänsbinde zu lösen versuchte, spricht Bände: Der Spieler mit den meisten Länderspielen auf dem Platz darf die Schleife tragen.
Ein Beweis dafür, wie sehr Flick Konflikte scheut, wie er sich einfach nicht gegen verrostete Strukturen durchzusetzen vermag.
Häufig argumentiert der Bundestrainer, man befinde sich noch in der Findungsphase. Nach 24 Länderspielen unter Flick sollte die aber längst vorbei sein. Spätestens mit Beginn der Weltmeisterschaft in Katar hätte Deutschland einen Stamm finden müssen, um den herum sich ein Kader herauskristallisiert.
Anstatt von Spiel zu Spiel die Mannschaft zu ändern, wäre Flick gut beraten, zumindest für einen Lehrgang, zumindest für zwei bis drei Spiele auf jene Spieler zu setzen, von denen er persönlich am meisten überzeugt ist. Leichte Korrekturen könnten dann immer noch vorgenommen werden.
Keine Zeit mehr für Flicks Experimente
Deutschland läuft die Zeit davon. In 360 Tagen beginnt die Europameisterschaft. Stand jetzt liefern deutlich kleinere Nationen – Österreich, Norwegen, die Schweiz – überzeugendere Auftritte als die DFB-Elf. Gegen Spitzenmannschaften wie Spanien, Kroatien, Frankreich oder England wäre man zum jetzigen Zeitpunkt – daran besteht gar kein Zweifel – komplett chancenlos.
Deutschland steht erneut eine außergewöhnlich talentierte Generation zur Verfügung. Spieler wie Antonio Rüdiger, Ilkay Gündogan und Kai Havertz haben sich weltweit längst das Renommee aufgebaut, zur erweiterten Weltklasse zu gehören. Jamal Musiala und Florian Wirtz gelten als internationale Spitzentalente.
Diese Generation hätte sich einen Trainer verdient, auf den sie sich verlassen kann. Der sich Widerständen mutig entgegenstellt. Der Probleme klar anspricht, anstatt sie wegzuleugnen. Der keine Durchhalteparolen bemüht, sondern den Spielern am Platz individuelle Freiheit gewährt.
Hansi Flick erfüllt diese Kriterien nicht. Will der DFB den Kurs korrigieren, muss jetzt gehandelt werden. Im Herbst ist für einen Trainerwechsel zu spät.
Zum Match-Center: Deutschland vs. Kolumbien