Analyse: Titelverteidiger Italien schleicht sich in den Favoritenkreis
Man kennt es von Italien bereits aus der Vergangenheit, in der Gruppenphase von Großereignissen tut sich der viermalige Weltmeister immer mal wieder schwer. So auch bei der laufenden Fußball-Europameisterschaft 2024.
Nach einem holprigen Start gegen Albanien - inklusive EM-Rekordtor durch Albaniens Nedim Bajrami nach 23 Sekunden - zeigten die Italiener eine starke Reaktion und gingen als Sieger vom Platz. Gegen Spanien waren die Italiener anschließend chancenlos (4:20 Schüsse, 0:2 Alutreffer, 0,2:2,0 xG).
So brauchten die Azzurri im dritten Gruppenspiel gegen die Kroaten mindestens einen Punkt, um sicher als Gruppenzweiter in die K.-o.-Runde einzuziehen. Lange stand dies auf der Kippe, so gelang dem viermaligen Weltmeister erst in der achten Minute der Nachspielzeit das erlösende 1:1 durch Mattia Zaccagni.
Beim eminent wichtigen Ausgleichstreffer durch Zaccagni in der Nachspielzeit kamen beim einen oder anderen Fan bestimmt Erinnerungen an die Weltmeisterschaft 2006 hoch: Als Alessandro Del Piero in ähnlicher Manier für die Entscheidung im Halbfinale gegen Gastgeber Deutschland sorgte. Sein Schuss schlug unhaltbar im Kreuzeck ein. Möglicherweise ein gutes Omen? Immerhin findet das Event auch diesmal in Deutschland statt.
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Italiens neues Gesicht unter Spalletti
Seit September 2023 bekleidet Luciano Spalletti das Traineramt bei der Squadra Azzurra. Spalletti, der in der Vorsaison noch den Meistertitel mit dem SSC Neapel in Italien feiern konnte, sollte die Nationalmannschaft nach der verpassten WM 2022 wieder in die Spur bringen.
Von Beginn an schien es gut zu funktionieren zwischen dem gebürtigen Toskaner und den Azzurri. Nur eines der ersten 11 Länderspiele unter Spalletti ging verloren (7 Siege, 3 Unentschieden). In den fünf Länderspielen zuvor hatte es noch drei Niederlagen gesetzt (bei 2 Siegen).
Trotz der Erfolge scheint Spalletti noch nicht seine Lieblings-Formation gefunden zu haben. Gegen Albanien und gegen Spanien agierte der Titelverteidiger mit zwei Innenverteidigern, respektive einer Viererkette. Im entscheidenden Gruppenspiel gegen Kroatien setzten die Italiener aber auf eine Dreierkette. Zwei konträre Ansätze, die Spalletti im Vorfeld der Europameisterschaft beide regelmäßig getestet hat.
Gelungener Umbruch
Was Luciano Spalletti definitiv gelungen ist, ist eine Rundumerneuerung der italienischen Nationalmannschaft. Insbesondere, wenn man seinen aktuellen EM-Kader mit jenem von der Europameisterschaft im Jahr 2021 vergleicht. So standen im finalen Gruppenspiel gegen Kroatien nur vier Champions von damals in der Startelf: Gianluigi Donnarumma, Giovanni Di Lorenzo, Nicolo Barella und Jorginho. Insgesamt sind nur acht italienische Europameister von 2020 auch bei der EM 2024 mit dabei (neben den genannten vier: Alex Meret, Federico Chiesa, Alessandro Bastoni und Bryan Cristante).
So kann zwar von einem recht radikalen Umbruch gesprochen werden, jedoch nur begrenzt von einem Generationenwechsel. Die Startelf der Squadra Azzurra hatte im EM-Endspiel 2021 ein Durchschnittsalter von 28 Jahren und 272 Tagen. Knapp drei Jahre später entsprach der Durchschnitt gegen Kroatien einem Schnitt von 27 Jahren und 169 Tagen.
Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass die Startformationen in den beiden ersten Gruppenspielen gegen Spanien (26 J. und 292 T.) und gegen Albanien (26 J. und 287 T.) im Schnitt deutlich jünger waren. Jene gegen Albanien war gar die jüngste Startelf Italiens bei einem Großereignis (WM und EM) seit der FIFA-Weltmeisterschaft 1994 in den USA (26 J. und 42 T. gegen Mexiko in der Gruppenphase).
Spalletti setzt in den entscheidenden Momenten nicht nur auf Erfahrung, sondern auch auf einen Block vom italienischen Meister Inter Mailand. Bastoni, Dimarco und Barella sind unter Spaletti unabhängig von der Formation gesetzt. So standen bisher fünf italienische Feldspieler Italiens bei der laufenden EURO mindestens 230 Spielminuten am Feld. Darunter die eben angesprochenen Inter-Profis (Bastoni 270 Min., Barella 269 Min. und Dimarco 230 Min.).
Abwehrverbund das Prunkstück der Azzurri
Aktuell stechen bei den Italienern insbesondere die Defensivakteure hervor, gegen und mit dem Ball gleichermaßen. Abwehrchef Alessandro Bastoni steht in der laufenden EM bei 21 Ballgewinnen, übertroffen nur vom deutschen Spielgestalter Toni Kroos. Zudem verbuchte Giovanni Di Lorenzo zehn Tacklings (viertbester Wert bei der Euro 2024).
Darüber hinaus sorgten mit Alessandro Bastoni und Nicolo Barella ein Innenverteidiger bzw. ein defensiver Mittelfeldspieler für zwei der drei italienischen Tore bei der laufenden Europameisterschaft. Den dritten und wichtigsen Treffer - das 1:1 gegen Kroatien - bereitete Riccardo Calafiori mustergültig vor.
Einer, der bisher in jedem Spiel seine Leitung abrufen konnte, war Schlussmann Gianluigi Donnarumma. Die Nummer Eins des französischen Meisters Paris Saint-Germain glänzte zuletzt mit einem gehaltenen Elfmeter gegen Kroatiens Kapitän Luka Modric. Gegen Spanien parierte "Gigio" acht gegnerische Schüsse, ein Wert, der seit der EM 1980 nur einmal von einem italienischen Torhüter in einem EM-Spiel erreicht wurde - Francesco Toldo bei der EM 2000 gegen Belgien (11 Paraden).
Dreimal musste Donnarumma bisher hinter sich greifen, wobei er gegen Spanien vom eigenen Mann bezwungen wurde. Deutlich überraschender als die starke Performance von Italiens Stammtorhüter Donnarumma, ist die Rolle des erst 22-jährigen Riccardo Calafiori, der unter Spalletti zum Stammspieler wurde.
Calafiori: Italiens Shootingstar erinnert an große Spieler
Paolo Maldini, Fabio Cannavaro, Leonardo Bonucci und Ricardo Calafiori. Sie alle verbindet neben der Berufswahl eines, die wehende Haarpracht. Ein Markenzeichen eines italienischen Vorzeigeverteidigers. Abgesehen von diesem vielleicht etwas weit hergeholten Zusammenhang ist Ricardo Calafiori momentan der aufstrebende italienische Defensivspieler schlechthin. Der 22-jährige Innenverteidiger erreichte in der abgelaufenen Serie-A-Saison einen Champions-League-Platz mit dem FC Bologna.
Besonders ersichtlich wird die Bedeutung Calafioris für den FC Bologna in der vergangenen Saison, wenn man auf jene Spiele blickt, in denen der Verteidiger den Norditalienern nicht zur Verfügung stand. In der vergangenen Saison bestritt er 30 Spiele in der Serie A, von denen Bologna 16 gewann und nur drei verlor (dazu 11 Unentschieden). Durchschnittlich traf Bologna 1,6-mal pro Spiel, kassierte 0,8 Gegentoren und holte 2,0 Punkten pro Spiel. In den acht Spielen ohne Calafiori gab es nur zwei Siege, drei Unentschieden und drei Niederlagen, bei einem Schnitt von 0,8 Toren pro Spiel, 1,0 Gegentoren und nur 1,1 Punkten pro Spiel.
Auch bei der EURO 2024 überzeugt Calafiori besonders mit seinen Antritten und seiner Spieleröffnung. Einzig Nicolo Barella (94,4 %) und Alessandro Bastoni (93,1 %) weißen bei den Azzurri eine höhere Passquote auf als Calafiori (92,6 %). Zudem ging kein Italiener in mehr Kopfballduelle (9 wie Retegui), von denen der Bologna-Akteur sieben gewinnen konnte (Höchstwert bei Italien).
Chiesa: Italiens Wirbelwind weiterhin unter seinen Möglichkeiten
Eines der Sorgenkinder Spallettis ist aktuell Federico Chiesa. Der Flügelspieler von Juventus und Europameister von 2020 spielte eine durchwegs gute Saison mit den Piemontesern, kam auf 12 direkte Torbeteiligungen und war im Schnitt alle 209 Minuten an einem Tor direkt beteiligt - besser bei Juve nur Arkadiusz Milik (118) und Dusan Vlahovic (119). Auch körperlich scheint sich der Flügelflitzer in einer besseren Verfassung zu befinden, wird ihm oft eine hohe Verletzungsanfälligkeit nachgesagt.
Insgesamt stand Chiesa in Pflichtspielen für Juventus in der abgelaufenen Saison 2512 Minuten auf dem Platz und sammelte damit beinahe ebenso viele Pflichtspielminuten für die Alte Dame wie in den vorherigen beiden Saisons zusammen (insg. 2687).
Der schwierige Stand von Federico Chiesa in der Nationalelf wird auch durch seine Position deutlich. Während er für Juventus in der abgelaufenen Saison fast ausschließlich am linken Flügel oder als halblinker Stürmer eingesetzt wurde, muss er in der Nationalmannschaft auf die rechte Außenbahn weichen. In den 174 Spielminuten, die Chiesa bei der EURO 2024 auf dem Platz stand, ging er in acht Dribblings (Höchstwert bei Italien). Vier davon komplettierte er.
Zudem kam Chiesa zu vier Abschlüssen (zweithöchster Wert bei Italien), die insgesamt jedoch nur einen xG-Wert von 0.,1 generierten - kein Spieler Italiens mit mindestens drei Schüssen hat solch einen geringen xG-Wert.
Wer beginnt im Sturmzentrum?
Eine der größten Fragen rund um die Squadra Azzurra ist die Stürmer-Thematik. Während Gianluca Scamacca in den ersten beiden Partien der EURO 2024 von Beginn an ran durfte und dabei nicht jeden überzeugte, bekam gegen Kroatien Matteo Retegui den Vorzug.
Dieser gab im entscheidenden Gruppenspiel die meisten Schüsse aller Italiener ab (3) und hatte die geteilt meisten Ballaktionen im gegnerischen Strafraum der Azzurri (4). Zudem führte Retegui die geteilt meisten Zweikämpfe aller Akteure am Feld (12 wie Josko Gvardiol) und gewann die meisten dieser (10).
Scamacca erzielte in der vergangenen Serie-A-Saison 12 Tore und somit deutlich mehr als Retegui. Jedoch machen Reteguis Tore 15,6 % aller Genua-Tore in der abgelaufenen Serie-A-Saison aus (7/45). Scamacca sorgte anteilig für 16,7 % aller Atalanta-Treffer in der heimischen Liga (12/72).
In den bisherigen EM-Spielen war besonders die Zweikampfstatistik Reteguis herausragend. Pro 90 Minuten ging dieser in 13,2 Zweikämpfe und gewann 61,1 % dieser. Scamacca hält bei der Euro 2024 aktuell bei 3.9 Zweikämpfe pro 90 Minuten und einer Erfolgsquote von 42,9 %.
Wie weit geht es für die Azzurri?
Nun geht es gegen die Schweiz, gegen welche die Italiener keines der letzten 11 Spiele verloren hat (5 Siege, 6 Unentschieden). Zudem kassierten die Azzurri in diesen 11 Duellen mit den Eidgenossen nur vier Gegentore und spielten siebenmal zu-null.
Wagt man einen Blick auf den Turnierbaum, hätte es für die Italiener wohl kaum besser laufen können. So belegten die Azzurri zwar nur den zweiten Platz in ihrer Gruppe, gehen dadurch jedoch Schwergewichten wie Deutschland, Portugal, Frankreich oder Spanien auf dem Weg bis ins (mögliche) Endspiel aus dem Weg.
Zu einer Neuauflage des EM-Endspiels des Jahres 2020 könnte es jedoch bereits im Viertelfinale kommen, sollten die Italiener als auch die Engländer die Runde der letzten 16 überstehen.
Beide Finalisten der vergangenen Ausgabe der EM zeigten sich zuletzt jedoch alles andere als überzeugend, die ein oder andere Überraschung wäre nicht undenkbar, zeigen sich vermutlich „kleinere Fußballnationen“ wie Italiens kommender Gegner die Schweiz - oder ein beeindruckend aufspielendes Österreich - in Höchstform. Sie bewegten sich auch gegen europäische Granden des Fußballs auf Augenhöhe.
Für die Squadra Azzurra scheint tatsächlich alles möglich, vom Achtelfinal-Aus bis hin zum großen Traum des Finals im Berliner Olympiastadion und die Chance auf eine historische Titelverteidigung. Die gelang zuvor einzig und allein Spanien.