Favoriten-Prognose zur Frauen-WM 2023: Die stärksten Teams analysiert
Australien (Gruppe B)
Bestes Ergebnis bislang: Viertelfinale (2007, 2011, 2015)
Die drei größten Stars: Ellie Carpenter (Lyon, Verteidigung), Sam Kerr (Chelsea, Angriff), Caitlin Foord (Arsenal, Angriff)
Analyse:
Die Hoffnung ist groß – sehr groß, um genau zu sein. Australiens Frauenfußball erlebt seit Jahren einen regelrechten Höhenflug. Bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio schafften es die “Matildas” erstmals ins Halbfinale. Wenige Wochen, bevor im eigenen Land das größte Fest des Frauenfußballs stattfinden soll, schlug man zudem ie Europameisterinnen aus England mit 2:0.
Bei diesem überzeugenden Triumph stand einmal mehr Sam Kerr im Mittelpunkt. Beim FC Chelsea verdient die 29-jährige Stürmerin über 1 Million Euro jährlich. In 120 Länderspielen für Australien erzielte sie 63 Treffer. Ihr Gespür für gefährliche Abschlusspositionen, ihre Athletik und ihre Raffinesse im Dribbling machen sie zur wohl besten Mittelstürmerin dieses Planeten.
Sam Kerr ist Rekordtorschützin ihres Landes, trug schon bei der WM 2019 die Kapitänsschleife und erzielte damals im letzten Gruppenspiel gegen Jamaika einen Viererpack. Tausende junge Mädchen eifern ihr nach, suchen ihr Glück in den Nachwuchsteams und hoffen darauf, von den großen Vereinen in Europa und Nordamerika gescoutet zu werden, um eines der begehrten Fußball-Stipendien zu erhalten.
Wenngleich Kerrs Qualitäten unbestritten sind: Australien wirkt in mancherlei Hinsicht zu stark von ihr abhängig. Im 4-4-2 des ehemaligen Co-Trainers der USA, Tony Gutavsson, ist fast alles auf sie zugeschnitten. Kommt Kerr zur Geltung, kommt Australien zur Geltung. Doch wenn sie ausfällt oder einen schlechten Tag erwischt…
… dann hofft man in Australien auf den Heimvorteil. Die Euphorie in Down Under ist riesig, das Eröffnungsspiel musste wegen des hohen Andrangs ins über 80.000 Zuseher fassende “Stadium Australia” verlegt werden.
Der emotionale Ausnahmezustand könnte Australien erstmals bis ins WM-Halbfinale tragen. Wenngleich schon die Gruppenphase zur schwierigen Herausforderung werden könnte: Gruppengegner Kanada etwa liegt im FIFA-Ranking auf Platz 7, Australien nur auf Platz 10.
Flashscore-Prognose: Halbfinale
Spanien (Gruppe C)
Bestes Ergebnis bislang: Achtelfinale (2019)
Die drei größten Stars: Irene Paredes (Barcelona, Verteidigung), Alexia Putellas (Barcelona, Mittelfeld), Athenea (Real, Angriff)
Analyse:
Es könnte alles so einfach sein: Der FC Barcelona dominiert den europäischen Vereinsfußball, ist gespickt mit einigen der talentiertesten Spielerinnen dieses Planeten – und größtenteils kommen diese auch für eine Einberufung in das spanische Nationalteam infrage. Real, Atletico und Sevilla gelten ebenso als Talentschmieden von Weltklasse-Format.
Doch es gibt ein Problem: Teamchef Jorge Vilda ist wegen seines rauen, wenig empathischen Kommunikationsstils intern umstritten. So umstritten, dass im Herbst 2022 ganze 15 Spielerinnen schriftlich bekanntgaben, nicht mehr in das Nationalteam einberufen werden zu wollen – sollte sich Vilda nicht verabschieden.
Der spanische Fußballverband RFEF bemühte sich, die Wogen zu glätten. Aus 15 protestierenden Spielerinnen wurden drei: die Barca-Profis Mapi Leon, Patricia Guijarro und Claudia Pina. Das Trio boykottiert die Frauen-WM 2023, wird in Australien und Neuseeland schmerzlich fehlen.
Jorge Vilda wird auch von etlichen Spielerinnen, die auf die Südhalbkugel mitgereist sind, weiterhin kritisch beäugt. Ein Hauch von Chaos wird die spanische Auswahl durch das Turnier begleiten. “Wichtig ist, dass die Mannschaft zusammenhält und an das glaubt, was vom Trainerstab vermittelt wird. So ist es nun einmal. Wir haben unser Konzepte vermittelt und sie wurden sehr gut verinnerlicht. Das Gute ist, dass es 23 Spieler gibt, die sich anstrengen”, beschwor der Cheftrainer Einigkeit.
Eigentlich hätten die Spanierinnen Grund zur Euphorie: Am Ball verfügt man über etliche Ausnahmekönnerinnen. Die zweifache Weltfußballerin Alexia Putellas kann nach einem überstandenen Kreuzbandriss ihr Können auf der ganz großen Bühne beweisen. Eine einfache Übung sollte die Gruppenphase werden. Entwickelt man danach einen Lauf, ist alles möglich.
Flashscore-Prognose: Viertelfinale
England (Gruppe D)
Bestes Ergebnis bislang: Platz 3 (2015)
Die drei größten Stars: Lucy Bronze (Barcelona, Verteidigung), Georgia Stanway (Bayern, Mittelfeld), Keira Walsh (Barcelona, Mittelfeld)
Analyse:
Die Engländerinnen müssen bei der Frauen-WM auf ihre wohl beste Spielerin verzichten: Beth Mead zog sich im November 2022 einen Kreuzbandriss zu. Bei der Europameisterschaft im vergangenen Jahr führte Mead die “Three lionesses” noch zum Titel – mit überragenden sechs Treffern in sechs Spielen.
Nicht nur als Torschützin, auch als Führungsspielerin wird Mead in Australien und Neuseeland fehlen. Zumal Abwehrchefin Leah Willliamson ebenfalls verletzt fehlen wird. Gezwungenermaßen rückt also das Barcelona-Duo Lucy Bronze und Keira Walsh ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Beide verkörpern beispielhaft den englischen Spielstil: Perfekte Ballbeherrschung, eine hohe physische Komponente, das immer wiederkehrende Bedürfnis, Ball und Gegner zu dominieren. Kick and Rush? Den englischen Damen ein Fremdwort. Stattdessen forciert Trainerin Sarina Wiegman geduldigen Ballbesitzfußball.
Im April endete gegen Australien zwar die unfassbare Rekordserie von 30 ungeschlagenen Länderspielen in Folge und auch im letzten Vorbereitungsspiel gegen Portugal kam man über ein 0:0 nicht hinaus – doch aus dem Favoritenkreis bei der Frauen-WM 2023 ist man angesichts dutzender großartiger Talente nicht wegzudenken.
Flashscore-Prognose: Finale
USA (Gruppe E)
Bestes Ergebnis bislang: Weltmeister (1991, 1999, 2015, 2019)
Die drei größten Stars: Lindsey Horan (Lyon, Mittelfeld), Sophia Smith (Portland, Angriff), Alex Morgan (San Diego, Angriff)
Analyse:
Es mag paradox klingen, doch der US-amerikanische Frauenfußball hat enorm davon profitiert, lange Zeit nicht ganz ernst genommen zu werden. Während in Europa Fußball lange als reine Männer-Domäne galt und Frauen vorenthalten wurde, entwickelte sich Fußball in den USA – im Schatten von Football, Baseball, Basketball und Eishockey – zur beliebtesten Sportart bei jungen Frauen und Mädchen.
Die heute 51-jährige Stürmerin Mia Hamm prägte eine Ära, war der erste große Star des Frauenfußballs. 158 Treffer in 276 Länderspielen sind ihre unfassbare Ausbeute. Zwei WM-Titel (1991 und 1999) konnte Hamm gewinnen, zweimal (1996 und 2004) gewann sie mit den USA olympisches Gold. Ihr Charisma und ihr schier endloser sportlicher Ehrgeiz machten sie zum Idol einer ganzen Generation.
Dass sich die USA durch den festen Glauben an technische und taktische Perfektion auszeichnen, wirkt sich auch auf den US-amerikanischen Fußball aus. Im Land des Rekordweltmeisters wird viel Wert auf die Optimierung von Technik, Taktik und Athletik gesetzt. Das macht sich auch in der Spielweise der US-Amerikanerinnen bemerkbar, die nicht an brasilianische Spielfreude oder spanische Eleganz erinnert – sondern in der Regel unfassbare Überlegenheit ausstrahlt.
Bei der Frauen-WM 2023 wird Superstar Megan Rapinoe zum letzten Mal die große Bühne betreten. Die Weltfußballerin von 2019 führte die USA 2015 und 2019 jeweils zum Titel. Die 38-jährige Offensivspielerin wird mit Jahresende einen Schlussstrich unter ihre Profikarriere setzen. Aus dem öffentlichen Blickpunkt wird sie aber nicht verschwinden. Ihr Wort hat in den USA Gewicht. Gerne äußert sie sich zu komplizierten, gesellschaftlichen Themen und setzt sich vehement für “Equal Pay” ein. Wie Mia Hamm wurde sie zum Idol einer Generation.
In Australien und Neuseeland sind die USA absoluter Top-Favorit. Obwohl Torjägerin Carli Llyod ihre Karriere bereits beendet hat. Obwohl die verletzten Spielerinnen Mallory Swanson, Catarina Macario und Samantha Mewis schmerzlich vermisst werden. Obwohl der Kader von Coach Vlatko Andonovski immensem Druck ausgesetzt ist – nur der Titel würde die US-amerikanischen Fans zufriedenstellen.
Die nächste talentierte, perfekt ausgebildete Generation schart bereits mit den Hufen. Und sie hat keine Angst vor zu großen Fußstapfen aus der Vergangenheit – sondern riesige Lust, diese auszufüllen.
Flashscore-Prognose: Titel
Schweden (Gruppe G)
Bestes Ergebnis bislang: Finale (2003)
Die drei größten Stars: Magdalena Eriksson (Bayern, Verteidigung), Fridolina Rolfö (Barcelona, Angriff), Stina Blackstenius (Arsenal, Angriff)
Analyse:
Dass Nationaltrainerin Pia Sundhage 2017 zum brasilianischen Verband wechselte, sorgte in Schweden für reichlich Sorgenfalten. Nur ein Jahr zuvor hatte sie ihr Team bei den Olympischen Spielen bis ins Finale gebracht. Doch Nachfolger Peter Gerhardsson knüpfte nahtlos an die Erfolge der Vergangenheit an. Bei der WM 2019 führte er Schweden zum bereits vierten Mal in ein Halbfinale. auch bei der EM 2022 kam man unter die besten vier.
In Australien und Neuseeland hat Gerhardsson – im Gegensatz zu England oder den USA – keine Verletzungen zu beklagen. Einzig die Fitness von Spielmacherin Kosovare Asllani macht Sorgen. Ob die 33-Jährige jedes Spiel über 90 Minuten absolvieren kann, muss bezweifelt werden. Steht Asllani nicht auf dem Platz, ist primär Fridolina Rolfö für die besonderen Momente verantwortlich.
Die 1,78 Meter große Flügelstürmerin ist am Ball eine echte Ausnahmekönnerin. Sie zögert nicht, ins Dribbling zu gehen, ist schnell, trickreich und beim Abschluss eiskalt. Das bekam auch ihr Ex-Verein, der VfL Wolfsburg zu spüren: Im Finale der UEFA Champions League erzielte sie den entscheidenden Treffer zum 3:2-Endstand für ihre neue Liebe, den FC Barcelona.
Schweden gilt als gut organisierte, verschworene Einheit. Im Februar machte man der deutschen Auswahl das Leben schwer. Die Elf von Peter Gerhardsson ging früh ins Pressing, machte das Zentrum dicht und wusste gegnerische Konter mit Leichtigkeit abzufangen.
Als Belohnung nahm man ein torloses Remis aus Duisburg mit. Abermals bewies man, gegen Top-Nationen nur selten Leistungseinbrücke zu erleiden. Das macht die traditionell starken Schwedinnen auch am anderen Ende der Welt zu einem Titelanwärter.
Flashscore-Prognose: Halbfinale
Deutschland (Gruppe H)
Bestes Ergebnis bislang: Weltmeister (2003, 2007)
Die drei größten Stars: Lena Oberdorf (Wolfsburg, Mittelfeld), Lina Magull (Bayern, Mittelfeld), Alexandra Popp (Wolfsburg, Angriff)
Analyse:
Der Turnierbaum ist nicht der Freund des deutschen Nationalteams. In der Gruppenphase trifft die Mannschaft von Bundestrainerin Voss-Tecklenburg zunächst auf drei deutlich schwächer einzuschätzende Nationen: Marokko, Südkorea, Kolumbien.
Alle drei dürften gegen die Vize-Europameisterinnen auf einen tiefstehenden Defensivblock und schnelle Konter setzen. Denn wie die überraschende 2:3-Niederlage im letzten deutschen Vorbereitungsspiel gegen Sambia bewiesen hat, stellt ein lauernder Gegner, der gar nicht die Absicht hat, das Spiel zu gestalten, Deutschland vor massive Probleme.
Sollte die DFB-Auswahl ihrer Favoritenrolle gerecht werden und auf Platz 1 ins Achtelfinale marschieren, trifft man auf den Zweiten der Gruppe F. Höchstwahrscheinlich Frankreich oder Brasilien. Sollte man auch diese Hürde nehmen, wartet im Viertelfinale möglicherweise England auf Alexandra Popp und ihre Kolleginnen. Leichte Spiele wird es für Deutschland bei der Frauen-WM also nicht geben.
Im Interview mit dem “kicker” warnte Lina Magull passenderweise: “Wenn das erste Spiel schleppend ist und man sich schwertut, zieht man das oft die nächsten Spiele mit. Am besten ist, direkt ein Ausrufezeichen zu setzen und mit Selbstvertrauen in die nächsten Spiele zu gehen.”
Gleichwohl hält der nach einer überdurchschnittlich erfolgreichen Europameisterschaft begonnene Hype in der Bundesrepublik an. 2022/23 kamen im Durchschnitt dreimal so viel Fans ins Stadion wie in der Vorsaison. Über 18 Millionen Zuseherinnen und Zuseher verfolgten live im TV das EM-Finale zwischen Deutschland und England.
Beim abschließenden Mini-Trainingslager in Herzogenaurach kamen zu den öffentlichen Trainingseinheiten gut 500 Leute zu Besuch. Wolfsburg erreichte das CL-Finale, außerdem lieferte sich der VfL mit dem FC Bayern München bis zum letzten Bundesliga-Spieltag ein packendes Titelrennen.
Längst ist der Frauenfußball in Deutschland wieder in der gesellschaftlichen Mitte angekommen. Nach den erfolgreichen Weltmeisterschaften 2003 und 2007 war das Land schon einmal wie elektrisiert. Aus Fußballspielerinnen wurden beliebte Werbeträgerinnen. Eine glücklose 18-monatigen Episode unter Steffi Jones (2016-2018) schien das Erbe von Bundestrainerin Silvia Neid nachhaltig beschädigt zu sein. Deutschland galt nicht länger als Weltklasse.
“Ich erinnere mich an Spielerinnen aus anderen Nationen, die vor einigen Jahren in der Wolfsburg-Kabine zu mir gesagt haben: ‘Wenn wir jetzt gegen Deutschland spielen müssten, würden wir uns keine Sorgen machen.’ Es war extrem nervtötend, das zu hören. Aber wir haben die Wahrnehmung durch gute Spiele geändert. Wir spüren, dass uns die Gegner mehr Respekt zollen und uns wieder fürchten”, erzählte Kapitänin Alexandra Popp im Interview mit “The Athletic”.
Nach Jones’ Entlassung sprang Horst Hrubesch in die Bresche, Martina Voss-Tecklenburg holte schließlich die Kohlen aus dem Feuer. Deutschland ist wieder wer. Ob das für den dritten WM-Titel reicht? Abwarten.
Flashscore-Prognose: Viertelfinale
Außenseiter mit Titelchancen:
Norwegen (Gruppe A) – Flashscore-Prognose: Viertelfinale
Kanada (Gruppe B) – Flashscore-Prognose: Achtelfinale
Frankreich (Gruppe F) – Flashscore-Prognose: Viertelfinale
Brasilien (Gruppe F) – Flashscore-Prognose: Achtelfinale