Advertisement
Advertisement
Advertisement
Advertisement
Advertisement
Advertisement

Deutschland, du steckst in der Krise: Kommentar zur WM-Enttäuschung

Micha Pesseg
Abwehrchefin Hegering nach dem blamablen Aus in der Vorrunde
Abwehrchefin Hegering nach dem blamablen Aus in der VorrundeProfimedia
Die deutschen Frauen haben die Gruppenphase bei der Frauen-WM 2023 nicht überstanden. Erneut gibt es Anlass, sich Gedanken über die Zukunft des deutschen Fußballs zu machen. Ein Kommentar, über die Grenzen des Männer- und Frauenfußballs hinweg. Ein Kommentar, dem die große Enttäuschung wohl anzumerken ist. Von Micha Pesseg.

Martina Voss-Tecklenburg ist eine Expertin. Sie versteht den Fußball, erkennt Schwachstellen und weiß, wie man Probleme lösen kann. Trotzdem konnte sie die Blamage bei der Frauen-WM 2023 nicht verhindern.

Neun Frauen-Weltmeisterschaften fanden bislang statt. Ebenso oft durfte Deutschland an diesen teilnehmen. Zweimal holte sich Deutschland dabei den Titel. Nur einmal schied Deutschland nach der Gruppenphase aus, nämlich heute, am 3. August 2023.

4 Punkte und Tabellenplatz 3 sind für die deutschen Ansprüche einfach zu wenig.
4 Punkte und Tabellenplatz 3 sind für die deutschen Ansprüche einfach zu wenig.Flashscore

Die Euphorie nach der erfolgreichen Europameisterschaft 2022 ist damit endgültig verpufft. Das DFB-Team wird wieder viel Popularität einbüßen. Die deutschen Frauen gelten nun nicht mehr als die bessere, die erfolgreichere Nationalmannschaft - sondern leiden unter derselben seltsamen Seuche wie das Herrenteam.

Man zählte sich selbst zur Weltklasse, belächelte noch bis zum Anpfiff in Brisbane das Horrorszenario Vorrundenaus. Ein Aus nach der Gruppenphase? Sieht das deutsche Selbstverständnis nicht vor. 

Irreführender Auftaktsieg

Und ja, auch wir haben bis zur letzten Sekunde nicht daran glauben können. Zu frisch waren die Eindrücke vom 6:0-Sieg über Marokko. Alexandra Popp hatte einen Doppelpack erzielt, Klara Bühl und Jule Brand durch freche Dribblings mächtig Staub aufgewirbelt, die Defensive um Sara Doorsoun präsentierte sich makellos. Deutschland trat dominant auf, ließ den WM-Neuling wie eine Gurkentruppe aussehen.

Nach dem Spiel gegen Marokko schien alles im Lot zu sein.
Nach dem Spiel gegen Marokko schien alles im Lot zu sein.AFP

Es folgten ein durchwachsener Auftritt gegen Kolumbien und ein phasenweise katastrophaler Auftritt gegen Südkorea. Weite Laufwege ohne Ball, mutige Entscheidungen mit Ball - wurden plötzlich zur Mangelware. 

Vor allem im letzten Gruppenspiel erhofften sich die Fans mehr Mut zum Risiko, mehr Tiefe im Spiel nach vorn. So wurde etwa Sara Däbritz ihrer Rolle als Spielmacherin kaum gerecht. Eine scheinbar unbedeutende Szene in der ersten Hälfte diente als exemplarisches Beispiel.

Fußball spielen - nicht Fußball denken!

Deutschland musste das Spiel von hinten heraus aufbauen. Kathrin Hendrich hatte den Ball am Fuß und viel Zeit. Doch sie wirkte zunächst planlos - wohin mit dem Ding? Däbritz gab das Kommando, auf Nebenfrau Marina Hegering zu verlagern. Däbritz selbst bewegte sich Richtung Seitenlinie, band dort eine Gegenspielerin und schuf so Platz im Zentrum.

Dort wären Alexandra Popp, Lea Schüller oder Jule Brand allesamt frei anspielbar gewesen. Stattdessen folgte ein unmotivierter Pass in die Tiefe, die verhältnismäßig langsame Däbritz wurde unsinniger Weise in ein Laufduell geschickt. Ein einfacher Ballgewinn für Südkorea.

Von Däbritz kamen gegen Südkorea nur wenig echte Akzente.
Von Däbritz kamen gegen Südkorea nur wenig echte Akzente.Opta by StatsPerform/Profimedia

Abstimmung? Fehlanzeige! Deutschland wirkte wie eine zusammengewürfelte Schultruppe ohne klaren Plan, ohne Struktur, ohne Hierarchie. Was paradox wirkt: denn wer Martina Voss-Tecklenburg kennt, weiß, dass sie auf Spielvorbereitung und Matchplan besonders viel Wert legt. Doch liegt vielleicht genau darin der Kardinalfehler? 

Taktische Vorbereitung ist gut, richtig und wichtig. Doch wenn es an der Umsetzung hapert, sollte der Fokus wohl lieber auf simple Steil-Klatsch-Kombinationen gelegt werden. Nationalmannschaften haben kaum gemeinsame Trainingseinheiten, eine klare Spielphilosophie zu etablieren ist da fast unmöglich. Verkopftes Positionsspiel im Stile von Pep Guardiola braucht Zeit, Geduld und viel Feinabstimmung. 

Kampfgeist statt Schöngeist

Damit die Kurzpass-Kombinationen nicht nur schön anzusehen sind, sondern tatsächlich Raum erzeugen, muss sich außerdem der Ball schnell, fortlaufend und immer präzise über den Rasen bewegen. Dazu ist Deutschland nicht in der Lage. 

Mehr taktische Freiheiten hätten Deutschland bestimmt gutgetan.
Mehr taktische Freiheiten hätten Deutschland bestimmt gutgetan.AFP

Obwohl die Akademien in der Bundesrepublik großartige Arbeit leisten: Technische Perfektion wird nie ein deutsches Qualitätsmerkmal sein. Stattdessen war die größte und gefährlichste deutsche Tugend im Fußball stets ein unbändiger Kampfgeist. Geht diese Tugend verloren, geht die eigene Identität verloren.

Im Gespräch mit “talkSPORT” legte Rio-Weltmeister Bastian Schweinsteiger schon vor einigen Wochen den Finger in die Wunde: “Als Pep Guardiola zu Bayern München kam, glaubten alle, wir müssten diese Art von Fußball spielen, mit kurzen Pässen und allem. Wir haben gewissermaßen unsere Werte verloren. Ich glaube, die meisten anderen Länder sahen Deutschland als Kämpfer, die bis zum Ende durchhalten und so weiter.

Tatsächlich: Wer sich die Wiederholung des deutschen 7:1-Sieges über Brasilien vor Augen führt, den beeindrucken weniger sehenswerte Passstafetten, sondern viel mehr unbarmherzige Zweikämpfe ohne Rücksicht auf Verluste. Durch Befreiungsschläge, Grätschen und clevere Fouls fand Deutschland einen Weg ins Spiel. Die Traumtore folgten erst danach. 

Eine Sternstunde des deutschen Fußballs: Der 7:1-Erfolg im WM-Halbfinale 2014 gegen Gastgeber Brasilien.
Eine Sternstunde des deutschen Fußballs: Der 7:1-Erfolg im WM-Halbfinale 2014 gegen Gastgeber Brasilien.Profimedia

Insofern muss sich der DFB wohl vom sehr deutschen Traum verabschieden, ein Spiel allein durch strategisches Kalkül zu kontrollieren - und stattdessen wieder vermehrt über den Kampf ins Spiel finden.

Kolumbien kaufte Deutschland bei der Frauen-WM 2023 nicht zuletzt deshalb die Schneid ab, weil man sich in den Zweikämpfen viel standhafter präsentierte. Dass die honduranische Schiedsrichterin nicht alle Fouls ahndete, sollte kein Anlass zum Lamentieren sein - sondern als Einladung verstanden werden, den Kolumbianerinnen das Leben für 90 Minuten ebenfalls zur Hölle zu machen.  

Mit der harten Spielweise Kolumbiens hatte die DFB-Elf augenscheinlich Probleme.
Mit der harten Spielweise Kolumbiens hatte die DFB-Elf augenscheinlich Probleme.Opta by StatsPerform

 Ein Mentalitätsproblem

Noch hat die junge, zweifelsohne talentierte deutsche Generation nicht gelernt, mit Rückschlägen oder heftigem Widerstand umzugehen.

Alexandra Popp (32 Jahre) und Marina Hegering (33 Jahre) machten gegen Südkorea kein fehlerfreies Spiel. Doch sie ließen auch nach dem frühen Gegentreffer nicht die Köpfe hängen, schienen selbst in der Nachspielzeit noch an das Wunder, den Treffer zum 2:1, zu glauben. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten und Tendenzen.

Realitätsverweigerung? Ja, und zwar im besten Sinne. 

Alexandra Popp konnte man nach dem Spiel gegen Südkorea nichts vorwerfen.
Alexandra Popp konnte man nach dem Spiel gegen Südkorea nichts vorwerfen.Opta by StatsPerform/AFP

Mit Blick auf die enttäuschenden Ergebnisse bei der Männer-WM 2022 in Katar, bei der U21-Europameisterschaft in Georgien und Rumänien und auf das blamable Vorrundenaus bei der Frauen-WM 2023 muss festgestellt werden: Fußball-Deutschland steckt in einer gigantischen Krise.

Einer Krise, die größer ist als jede Trainerdiskussion. Eine Krise, die in keiner Kolumne schöngeredet oder zu Ende erzählt werden kann. Sondern eine Krise, welche die Frage erlauben sollte: Wie will Deutschland am Ende des Tages eigentlich Fußball spielen? Mit Hirn oder mit Herz?