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ÖFB-Adler im Sturzflug? Die EM war nur ein Vorgeschmack

Micha Pesseg
Der österreichische Rekordspieler Marko Arnautovic nach der Niederlage gegen die Türkei.
Der österreichische Rekordspieler Marko Arnautovic nach der Niederlage gegen die Türkei.Profimedia
Nach einer überraschend erfolgreichen Gruppenphase wurde Österreich vielerorts schon als Titelkandidat betrachtet. Am Dienstagabend saß die halbe Nation vor dem Fernseher, um das Achtelfinale der Fußball-Europameisterschaft 2024 gegen die Türkei (1:2-Niederlage) mitzuverfolgen. Trotz der bitteren Pleite gibt es Anlass zur Hoffnung. Wieso? Weil Österreich endlich im Weltfußball angekommen ist. Ein Kommentar von Micha Pesseg.

Ich verfolge die österreichische Nationalmannschaft, seit ich mich für Fußball interessiere. Damals, während der WM 2006, als die Klassenkameraden Panini-Sticker unter dem Bankfach tauschten und von Ronaldinho zu schwärmen begannen, da wurde bei mir die Liebe zum schönsten Sport der Welt entfacht. 

Während in Deutschland eine einzigartige Euphorie entstand und plötzlich vom Sommermärchen gesprochen wurde, fragte ich mich, wieso Österreich eigentlich nicht an der Weltmeisterschaft teilnimmt. Als ich meinen Vater danach gefragt habe, war seine Antwort ebenso knapp wie eindeutig: "Weil wir nicht gut genug sind." 

Finstere Zeiten

Österreich und Fußball - das passte einfach nicht zusammen. Unser "prominentester" Nationalspieler war der Torwart. Er hörte auf den Namen Jürgen Macho, damals stand er beim 1. FC Kaiserslautern in der 2. Bundesliga unter Vertrag. Das ÖFB-Team eilte von Niederlage zu Niederlage, Trainer Josef Hickersberger fürchtete sich vor einer Blamage bei der Heim-EM 2008. 

Also ließ er während der Endrunde extrem biederen Fußball spielen. In der Gruppenphase mauerte sich die ÖFB-Auswahl zu zwei knappen Niederlagen gegen Kroatien und Deutschland. Polen war den Österreichern halbwegs ebenbürtig. Als durch einen Strafstoß in der letzten Minute der 1:1-Ausgleich gelang, verwandelt vom fast 39-jährigen Ivica Vastic, brachen alle Dämme. 

So sehnsüchtig lechzten wir nach einem Erfolg, so sehr sehnten wir uns nach einer Sternstunde.  

Vor gerade einmal 16 Jahren wurde ein Unentschieden gegen Polen bereits wie der Titelgewinn gefeiert.
Vor gerade einmal 16 Jahren wurde ein Unentschieden gegen Polen bereits wie der Titelgewinn gefeiert.Profimedia

Nobody is perfect

Wer nicht weiß, wo sich der österreichische Fußball vor 15 bis 20 Jahren befunden hat, kann unmöglich nachvollziehen, was es für die Nation bedeutet, die Gruppenphase auf dem ersten Platz beendet zu haben. Der kann unmöglich verstehen, wieso die Europameisterschaft 2024 trotz der dramatischen Achtelfinal-Niederlage gegen die Türkei (1:2) noch lange Zeit im kollektiven Gedächtnis der Österreicher Bestand haben wird.

Ralf Rangnick ist kein Zauberer. Sein Pressing ist ausgeklügelt und stellt selbst die größten Gegner vor echte Probleme. Aber: Am Dienstagabend wurde er vom türkischen Trainer Vincenzo Montella auf klassische Weise ausgecoacht.

Auf die frühe Führung ließ man lange Zeit die richtige Antwort vermissen. Die Doppelsechs mit Konrad Laimer und Nicolas Seiwald war gegen die Fünferkette der Türkei einfach zu statisch. 

Kaschiert wurden die taktischen Mängel von einer großen Portion Kämpferherz: Als Joker Michael Greogritsch den Anschlusstreffer erzielte, schien urplötzlich auch der Ausgleich in der Luft zu liegen. Immer erbarmungsloser tickte die Uhr. Die Spieler warfen sich in jeden Zweikampf, suchten den Weg nach vorne, wollten den Ausgleich erzielen.

Bis zur letzen Minute kämpften die ÖFB-Adler um den Ausgleich.
Bis zur letzen Minute kämpften die ÖFB-Adler um den Ausgleich.Flashscore

Das ist Siegermentalität. Das ist, was Österreich so lange Zeit gefehlt hat. Das haben wir Ralf Rangnick zu verdanken. Die Niederlage war schmerzhaft, aber die gezeigte Leistung erfüllte die Fans mit großem Stolz. 

Zum Match-Center: Österreich vs. Türkei

Der Weltfußball kommt nach Österreich

Obwohl in jedem noch so kleinen Dorf ein Fußballplatz zu finden ist, obwohl knapp 300.000 Menschen in diesem Land aktiv auf dem Platz stehen (wenn auch größtenteils in den Niederungen des Amateurfußballs), haben sich die Österreicher lange Zeit ein wunderbares Märchen erzählt: Wir sind eine Skifahrer-Nation, wir können nicht Fußball spielen.

Denn Rangnick hat es geschafft, dem Land neues Selbstvertrauen einzuhauchen. Schon als er bei Red Bull angestellt war, war er für eine rasante Modernisierung des österreichischen Fußballs verantwortlich. Der "Professor" verpasste RB Salzburg eine taktische DNA, installierte ein professionelles Scouting. Er zeigte der Nation, was möglich ist, wenn man Fußball nicht nur mit Herz, sondern auch mit Hirn spielt. 

Ralf Rangnick hat Österreich wieder an die Weltspitze herangeführt.
Ralf Rangnick hat Österreich wieder an die Weltspitze herangeführt.Profimedia

Er lotste talentierte Spieler wie Sadio Mane, Kevin Kampl und Jonathan Soriano nach Österreich. Der Weltfußball, die Champions League, die großen Vereine - in der Ära vor Rangnick schien das alles unendlich weit entfernt zu sein.

Bayern-Absage mit Symbolwirkung

Als sich Rangnick Anfang Mai gegen einen Wechsel zum FC Bayern München entschieden hatte, machte er sich in Österreich unsterblich. Zwischen die endlose Dankbarkeit, die man ihm gegenüber verspürte, mischte sich auch ein bisschen Fassungslosigkeit: Dass jemand den Bayern absagen würde, um in Österreich zu arbeiten - ist ein absolutes Novum.

Wenngleich Rangnick gute Gründe hatte, um auf einen Wechsel an die Säbener Straße zu verzichten und die Entscheidung weitaus weniger romantisch sein dürfte, als wir zunächst glauben - sie hat großen Symbolcharakter. Und sie hat sich auch auf die Mannschaft positiv ausgewirkt. 

Rangnick glaubt an seine Mannschaft, er glaubt an Österreich - und zwar mehr als viele Österreicher.

Schwarz-Weiß-Österreich

Üblicherweise schwankt die Stimmung in der Nation. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, dazwischen gibt es nichts. Ralf Rangnick hat vor dem Achtelfinale gegen die Türkei versucht, vorsichtig auf die Euphoriebremse zu steigen. Würden alle "Parameter" zugunsten der ÖFB-Elf laufen, wäre auch der Finaleinzug möglich, sagte er gegenüber Laola1.

Die Parameter stimmten nicht, die Türkei machte am Dienstagabend ein starkes Spiel. Arda Güler machte die Gelbsperre von Hakan Calhanoglu vergessen, Montellas Matchplan ging perfekt auf.

Dass trotz der Niederlage keine schlechte Stimmung in Österreich zu spüren ist, dass die Fans nicht beginnen, auf die Mannschaft zu schimpfen, sondern sie für das Erreichte feiern: Das alles macht Hoffnung auf eine erfolgreiche Weltmeisterschaft im Jahr 2026.

Micha Pesseg wurde in Österreich geboren, verfolgt mittlerweile aber in erster Linie die deutsche Bundesliga.
Micha Pesseg wurde in Österreich geboren, verfolgt mittlerweile aber in erster Linie die deutsche Bundesliga.Flashscore