Professor in der Skifahrernation: Wieso Ralf Rangnick in Österreich so beliebt ist
Corner oder Eckstoß? Gurkerl oder Tunnel? Ferserl oder Hacke? Bundesliga oder Bundesliga?
Die Unterschiede zwischen österreichischem und deutschem Fußball sind ebenso zahlreich wie die Gemeinsamkeiten. Das spiegelt sich auch in einigen Statistiken wider.
22 österreichische Profis sind aktuell in der deutschen Bundesliga aktiv - 16 deutsche Profis wiederum in der österreichischen Bundesliga. 1941 wurde der österreichische Rekordmeister Rapid Wien sogar deutscher Meister. Wie das möglich war, erfährt man im Geschichtsunterricht.
Komm und Kauf
Die Beziehung zwischen der kleinen Donau- und der großen Bundesrepublik ist ebenso komplex wie paradox. Zahlreiche deutsche Trainer haben in Österreich wichtige Erfahrungen gesammelt. Prominente Beispiele? Marco Rose (Leipzig), Niko Kovac (Wolfsburg) und Thomas Letsch (Bochum) haben allesamt Vergangenheit in Österreich - genauer gesagt in Salzburg.
Denn dort investierte der mit Energy Drings reich gewordene Didi Mateschitz dutzende Millionen Euro in seinen Retortenverein Red Bull Salzburg. Ein Konzept, das eine ähnliche Funktion erfüllt wie 50+1, gibt es in Österreich nicht. Geldgeber werden bei den notorisch klammen Vereinen üblicherweise mit offenen Armen empfangen. Dass Milliardäre oft keine noblen Gönner sind, sondern Geschäftsleute, die wissen, wie man ein Produkt vermarktet, vergisst man da relativ schnell.
Der Schwesterverein in Leipzig musste kreativ werden und den Begriff “Rasenballsport” aus dem Hut zaubern, um “RB” im Vereinsnamen unterzubringen. In Österreich hingegen haben Sponsorennamen eine lange Tradition. Der "SK Komm und Kauf Vorwärts Österreich Steyr" ging schon in den 1990er-Jahren auf Torjagd, Duelle zwischen dem SV Casino Salzburg und Austria Memphis gab es ebenso wie zwischen dem RZ Pellets Wolfsberger AC und dem TSV Egger Glas Hartberg.
Vor Länderspiel in Wien: Die Anfänge der Rivalität zwischen Deutschland und Österreich
Und dann kam Rangnick
Trotzdem wird und wurde das Konstrukt Red Bull Salzburg auch in Österreich kritisch beobachtet. Die zahlreichen Finanzspritzen erfüllten hier keine lebenserhaltende Funktion, sondern primär dazu, das Firmenlogo in Szene zu setzen. Als Mateschitz 2005 seine Pläne öffentlich machte, Geschichte und Tradition des Vorgängervereins Austria Salzburg auszuradieren, wurde er im österreichischen Fußball zur Persona non grata - zumindest bis sich die Geldbörse wieder öffnete.
In der Saison 2012/13 begann sich die allgemeine Wahrnehmung endgültig zu ändern. RB Salzburg hatte bis dahin vorzugsweise alternde Stars wie Alexander Zickler nach Österreich gelockt. Erst nachdem Ralf Rangnick im Sommer 2012 als neuer Sportdirektor vorgestellt worden war, wählte man eine andere Strategie. Jetzt wurden fast ausschließlich junge Talente in die Mozartstadt gelotst. Sadio Mane, Kevin Kampl und Peter Gulacsi machten ihre ersten professionellen Gehversuche an der Salzach, Erling Haaland und Dominik Szoboszlai sollten folgen.
Plötzlich wurde im Land der hohen Bälle und Kopfballstafetten unfassbar attraktiver und vor allem erfolgreicher Fußball gespielt. In der Europa League feierte die von Roger Schmidt trainierte Mannschaft sagenhafte Ergebnisse. Sie setzte sich in der K.o.-Phase unter anderem gegen Ajax Amsterdam durch und sammelte so wichtige Punkte für die 5-Jahres-Wertung der UEFA - davon profitierten wiederum die Wiener Traditionsvereine Rapid und Austria. Der österreichische Fußball erlebte einen Aufschwung.
Sehnsucht nach Taktik
“Wir sind eben eine Skifahrernation”: Ausreden wie diese verloren plötzlich an Bedeutung. Beim ÖFB sind knapp 300.000 Spieler*innen registriert, das über 50.000 fassende Ernst-Happel-Stadion ist bei fast jedem Länderspiel ausverkauft. In jedem noch so winzigen Dorf ist ein kleines Stadion zu finden. Auch wenn die Top-Nationen außer Reichweite liegen, ist Fußball mit deutlichem Abstand die beliebteste Sportart in Österreich.
Trotzdem erntete Teamchef Didi Constantini noch im Jahr 2011 für seine Aussage “Taktik ist überbewertet” kaum Gegenwind. Fußball, so der weitläufige Glaube, muss nicht verstanden, sondern gespielt werden und am Ende gewinnt, wer mehr Leidenschaft und Einsatzbereitschaft gezeigt hat. Oder jene Nation, die den Fußball einfach im Blut hat.
Doch drei Jahre zuvor hatten die österreichischen Fans bei der EM 2008 aus nächster Nähe erlebt, dass Fußball keine Kampfsportart ist. Einen Sommer lang hatte das spanische Tiki-Taka nicht nur die kleine Alpenrepublik, sondern ganz Europa verzaubert. Allmählich wurde Begriffe wie System, Konzept und Taktik in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen.
Die Stimmung wandelte sich und Ralf Rangnick in Österreich mit offenen Armen empfangen. Der Verfechter von Raumdeckung und Viererkette hatte in Deutschland den höhnischen Spitznamen “Professor” erhalten. In Österreich wurde der böse Scherz als Ehrentitel verstanden.
Nach dem Vorbild von Barcelonas “La Masia” tüftelte er an einem Spielstil, der in Salzburg fortan sowohl in der Akademie als auch in der ersten Mannschaft zum Einsatz kommen sollte. Hohes Pressing, hohe Aggressivität, hohe Intensität waren die neuen Schlüsselbegriffe in Wals-Siezenheim. Eine global agierende Scoutingabteilung diente als perfekte Ergänzung.
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Salzburg: Österreichs neue Fußball-Hauptstadt
Der Einfluss von Red Bull auf den österreichischen Fußball ist enorm. Sieben von elf Nationalspielern, die vergangenen Donnerstag beim 2:0-Sieg in Estland auf dem Platz standen, haben Vergangenheit in Salzburg. Von der dortigen Akademie profitieren auch die kleineren Vereine, dutzende Bundesliga-Profis in Österreich genossen ihre Ausbildung in der RB-Schule.
Rangnick ist das Gesicht dieses Wandels. 2022 wurde er zum Nachfolger von Franco Foda ernannt und übernahm die österreichische Nationalmannschaft. Foda bevorzugte eine defensive und vorsichtige Spielweise, Rangnick hingegen galt als Symbol von mutigem Angriffsfußball. Dementsprechend wurde seine Verpflichtung von der heimischen Medienlandschaft als gigantischer Coup wahrgenommen.
Nachdem Österreich im ersten Länderspiel unter Rangnick einen 3:0-Sieg in Kroatien gefeiert hatte, schien der Umbruch eingeleitet. Für die EM 2024 qualifizierte sich das ÖFB-Team ohne große Probleme.
Das Problem: Mit zunehmendem Erfolg steigen auch die Erwartungen. Nächsten Sommer in Deutschland, da sollte zumindest das Viertelfinale erreicht werden, hieß es vor einigen Wochen in der Talkshow “Sport & Talk aus dem Hangar-7”. Eine Fernsehsendung, die auf Servus TV ausgestrahlt wird, einem von Red Bull finanzierten Fernsehsender. Und so schließt sich der Kreis.