Nerven wie Stahl: Österreichs Aufsteiger Blau-Weiß Linz im Portrait
Österreich ist eine Skifahrer-Nation? Mitnichten.
Während die Wintersport-Erfolge in der benachbarten Bundesrepublik seit dem Rücktritt von Marcel Hirscher rarer wurden, hat im Fußball eine große Aufholjagd begonnen. Taktische Überlegungen auf dem Rasen, eine nachhaltige Strategie im Vereinsvorstand und Vollgas bis zur letzten Sekunde der Nachspielzeit sind in der Alpenrepublik längst Usus.
Blau-Weiß Linz: Wegfusioniert und bereits für tot erklärt...
Tatsächlich blickt Österreich auf eine lange und erfolgreiche Fußball-Historie zurück. Das österreichische Wunderteam um Matthias Sindelar sorgte in den 1930er-Jahren international für Furore, galt bei der Weltmeisterschaft 1934 gar als Titelfavorit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in den Industriestädten zahlreiche Werksvereine gegründet, welche den Arbeitern ein sportliches Hobby und den Zuschauern erfüllende Ablenkung verschaffen sollte.
Einer dieser Vereine: der 1946 gegründete SK VÖEST Linz. VÖEST, unter diesem Namen fungierten die "Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke". Der Hauptsitz der VÖEST wurde in Linz, an der schönen blauen Donau - die nicht nur Gerüchten zufolge eigentlich grün ist - erbaut.
Der neu gegründete Fußballklub wurde ausschließlich von den Stahlwerken finanziert, 1969 gelang zum ersten Mal der Aufstieg in die österreichische Bundesliga. Fünf Jahre später folgte der größte Triumph der Vereinsgeschichte: Der Meistertitel. Als Belohnung trat man anschließend im Europapokal gegen den großen FC Barcelona um Superstar Johann Cruyff an. Die Rollen waren klar verteilt, die Katalanen fertigten die Stahlstädter im Hinspiel mit 5:0 ab. Im sportlich bedeutungslosen Rückspiel freute man sich in Linz immerhin über ein torloses Unentschieden.
In den Jahren danach folgte ein beispielloser Absturz. Die VÖEST litt zunehmend unter Geldsorgen, folglich auch der Verein. Die Unterstützung der Stahlwerke wurde geringer, externe Sponsoren verhinderten den Worst Case nicht. Es folgte 1990 die Umbenennung in FC Stahl Linz, 1993 in FC Linz.
1997 war man schließlich nicht mehr überlebensfähig, es kam zur Fusion mit dem Stadt- und Erzrivalen LASK. Tatsächlich glich diese einer Auflösung. Der LASK übernahm kaum Elemente des Konkurrenten, verleibte sich lediglich die erfolgreiche Nachwuchsabteilung ein und machte fortan sein eigenes Ding. Hermann Schellmann ließ die Schmach nicht einfach auf sich sitzen.
Schellman war seit seiner Kindheit großer Fan und im Brotberuf Speditionsunternehmer. Er gründete kurzerhand seinen eigenen Verein. Den FC Blau-Weiß Linz. Die Strukturen wurden vom ebenfalls klammen SV Austria Tabak Linz übernommen. Fortan kämpfte man auf den schlammigen Plätzen des österreichischen Unterhauses um Anerkennung. Eine Reise begann, die 26 Jahre später, mit der “Rückkehr” in die Bundesliga, ihren vorläufigen Höhepunkt erleben sollte.
...allen Widrigkeiten getrotzt.
Hermann Schellmann ist noch heute im Verein aktiv, wenn auch nur als Ehrenpräsident. Er übergab die Geschicke 2017 an ein junges, erfolgshungriges Team. “In tadellosem Zustand und voller Perspektiven”, wie damals die Lokalzeitung OÖN berichtete. Schellmann war stets um organisches Wachstum bemüht, führte den Verein mit Weitsicht und Hausverstand. Allerdings auch ohne all zu hohes Risiko.
2017 änderte sich das. Die “Agenda 2027” wurde präsentiert. Ein ebenso ambitioniertes wie detailliertes Arbeitspapier, welches die Rückkehr in die höchste Spielklasse bis 2027 zum primären Ziel erklärte. Erreicht wurde diese schon vier Jahre vorher, der Vorstandsvorsitzende ist mittlerweile Sargon Mikhaeel.
Seit Jahren strömen tausende Fans zu den Heimspielen des FC Blau-Weiß Linz. Blau-Weiß bewegt die Massen. Man befindet sich wieder auf Augenhöhe mit dem Erzrivalen LASK - welcher nach einer ebenfalls turbulenten Historie seit einigen Jahren wieder höchst erfolgreich in der höchsten Spielklasse unterwegs ist.
Die organisierte, blau-weiße Fanszene lebt für den Verein. Sie machte mit lauten Schlachtgesängen und aufwendigen Choreografien schon im Amateurfußball auf sich aufmerksam. Die Anhänger betrachten sich selbst als “Vöestler”, was die Verbundenheit zum Vorgängerverein ausrücken soll. Man ist stolz auf die lange Historie und die Ursprünge in der Arbeiterklasse.
Entscheidung in der Nachspielzeit
Der Aufstieg in die Bundesliga kam überraschend. Er war das Resultat eines dramatischen letzten Spieltags in der 2. Liga. Der Grazer AK, ein Ligakonkurrent mit ähnliche großer Geschichte, hatte den Aufstieg selbst in der Hand, musste lediglich das letzte Saisonspiel in Dornbirn gewinnen. Der Spitzenreiter gegen einen Verein aus dem Tabellenmittelfeld, für den es um nichts mehr geht? Das kommt in Deutschland wohl vielen Leuten bekannt vor.
Tausende GAK-Fans waren die knapp siebenstündige Reise von der Steiermark nach Vorarlberg angetreten, in der Hoffnung, den Titel in der 2. Liga bejubeln zu können. Doch, natürlich, es kam anders.
In der 89. Minute kassierten die Grazer den Gegentreffer zum 0:1. Spät in der Nachspielzeit erzielte man den Ausgleich, doch der hatte keine Bedeutung mehr. Denn im Parallelspiel gegen die Sturm Amateure gewannen die Oberösterreicher 2:1. Abwehrspieler Danilo Mitrovic hatte in der 86. Minute das Siegestor für die Stahlstädter erzielt. BW Linz beendete die Saison als Aufsteiger.
Ein Saisonfinale, welches mit jenem in Deutschland - Stichwort Borussia Dortmund, Stichwort HSV, Stichwort Osnabrück - locker mithalten konnte.
Schritt für Schritt - auch in der Bundesliga
In der laufenden Saison hat BW Linz nur ein Ziel, nämlich den Klassenerhalt. Traditionell sind die Aufsteiger in Österreich höchst erfolgreich, kommen häufig mit viel Schwung auf die große Bühne. Bei Blau-Weiß gibt man sich dennoch bescheiden.
Die wirtschaftlichen Mittel sind gering, der Verein konnte im laufenden Transferfenster nur punktuell verstärkt werden. Aus Deutschland kamen mit Conor Noß (22 Jahre, Mönchengladbach) und Mehmet Ibrahimi (20 Jahre, RB Leipzig) zwei vielversprechende Talente. Außerdem kehrte Eigengewächs Stefan Haudum (28 Jahre, SCR Altach) nach vier Jahren zurück zu BW.
Für zusätzliches Flair sorgt zudem Kristijan Dobras. Der Spielmacher ist in Österreich gut bekannt. Er debütierte 2012 für Rekordmeister Rapid Wien in der Bundesliga. Dank feiner Ballbehandlung, guter Übersicht und der medialen Vorliebe für überschwängliche Töne, prophezeiten ihm damals einige Experten rasch eine Zukunft als österreichischer Nationalspieler. Dobras ist heute 30 Jahre alt, stand bereits in Australien und der Schweiz unter Vertrag und bereits 131-mal in der Bundesliga auf dem Rasen. Für die ganz großen Momente reichte es bei Dobras aber nie. Bei BW Linz soll sich das ändern, er eine Schlüsselrolle einnehmen.
Dobras sorgt für die entscheidenden Pässe, Ronivaldo für die entscheidenden Tore. Zumindest in der Idealvorstellung. Ronivaldo, das ist ein Spieler, dessen Geschichte jener von Blau-Weiß sehr ähnelt. Seine Torausbeute in Österreichs 2. Liga ist unglaublich - 137 Treffer in 217 Spielen. Dreimal wurde der 34-jährige Brasilianer in der zweithöchsten Spielklasse Torschützenkönig.
2015 folgte darum der Wechsel zum nationalen Spitzenverein Austria Wien. Es ging schief, was nur schiefgehen konnte. Eine hartnäckige Schambeinentzündung machte den Transfer zur Farce. In zwei Jahren absolvierte Ronivaldo keine einzige Pflichtspielminute für die Austria. Ronivaldo galt als gescheitert, ließ sich aber nicht unterkriegen.
Viele torreiche Zweitliga-Jahre später ist es soweit: Als Ronivaldo beim Saisonauftakt vergangenen Samstag gegen den Wolfsberger AC (1:2-Niederlage) in der Startelf stand, waren das seine ersten Minuten in der Bundesliga. Bei Blau-Weiß ist Ronivaldo ein Star.
Neues Stadion, alte Euphorie
Auch in den Niederlanden hat man den Namen bereits gehört. Als die Linzer Mitte Juli ihr neues Stadion mit einem Freundschaftsspiel gegen PSV Eindhoven einweihten, erzielte Ronivaldo schon in Minute 4 das Führungstor für Blau-Weiß. Ein traumhafter Distanzschuss.
Am Ende verlor BW mit 1:2. Den Fans war das an diesem überaus heißen Julinachmittag, bei rund 28 Grad Celsius, aber vollkommen egal.
Das frisch erbaute Hofmann Personal Stadion stellte den treuen Anhang zufrieden. Sie hatten das neu errichtete Schmuckkästchen, welches direkten Ausblick auf die Donau bietet, 90 Minuten lang zur Hölle gemacht. Nicht zum letzten Mal in dieser Saison. Sie freuen sich auf die großen Höhepunkte. Gegen Sturm Graz, gegen Rapid Wien, gegen Red Bull Salzburg.
5.600 Fans passen in die neue Arena, über 40 Millionen Euro hat sie gekostet. Der Linzer Bürgermeister Klaus Luger - dessen Herz für Blau-Weiß schlägt - und das Land Oberösterreich finanzierten den Bau mehrheitlich. Das Stadion wird in der kommenden Spielzeit garantiert einige Male, aber nicht immer voll sein. Österreich ist eine Fußball-Nation, ja, aber eine verhältnismäßig kleine.
Die Dimensionen sind weitaus geringer als im benachbarten Deutschland. Die Leidenschaft aber ist dieselbe. Wie auch der steinige Weg von Blau-Weiß Linz beweist. “Wegfusioniert und bereits für tot erklärt, sind wir immer noch da, haben allen Widrigkeiten getrotzt, sind hingefallen und wieder aufgestanden, werden immer wieder aufstehen. Mit Rückschlägen und Niederlagen gehen wir fair aber selbstbewusst um”, heißt es passenderweise im Leitbild des Vereins.