Schlagabtausch im hohen Norden: FC St. Pauli trifft auf den Hamburger SV
Die meiste Zeit ihres Bestehens waren der Hamburger SV und der FC St. Pauli in unterschiedlichen Ligen unterwegs. Seit fünf Jahren kommt es aber in der 2. Bundesliga regelmäßig zum Kräftemessen, seitdem trafen die Stadtrivalen zehnmal aufeinander. Fünfmal holte sich das vermeintlich kleine St. Pauli die drei Punkte, viermal hatte der HSV den längeren Atem. Am Freitag verspricht das Spiel am Millerntor (18:30 Uhr/Flashscore Audioreportage) besondere Brisanz, der Tabellenführer trifft auf den Tabellenzweiten.
Das Hamburger Derby ist aber nicht nur aus sportlicher Sicht bedeutsam. Es ist nicht nur ein Aufeinandertreffen von zwei verschiedenen Vereinen - sondern auch von zwei verschiedenen Ideologien.
Sechsmal hat der HSV die deutsche Meisterschaft geholt (zuletzt 1983). Fünfmal standen die Rothosen in einem Europapokal-Finale, zweimal trug man sogar den Sieg davon. 1977 den Pokal der Pokalsieger, sechs Jahre später sogar den noch prestigeträchtigeren Europapokal der Landesmeister.
St. Pauli ist historisch betrachtet der deutlich kleinere Verein. Keine einzige Trophäe schmückt das Briefpapier der Kiezkicker. Daran stören sich aber nur wenige Fans, denn dem eigenen Selbstverständnis zufolge ist man mehr als ein Fußballverein.
Nicht nur sportliche Rivalität
In den 1970er- und 1980er-Jahren gehörte der HSV zu den besten Mannschaften Europas. St. Pauli aber pendelte zwischen 2. und 3. Liga hin- und her. Die beiden Vereine einte damals eine neutrale, fast freundschaftliche Beziehung. Den Fanlagern fiel das auch deshalb einfach, weil man aus sportlicher Sicht einander keine Konkurrenz war. Das ist heute anders, Ressentiments prägen die Fehde zwischen dem HSV und St. Pauli.
Der Ursprung dieses Konfliktes liegt im in den 1980er-Jahren vollzogenen gesellschaftlichen Wandel in Deutschland. Zum vielleicht ersten Mal seit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus traten wieder offen faschistische Gruppierungen ans Tageslicht. Neonazis begannen, ihnen fremde Bevölkerungsgruppen grundlos zu tyrannisieren.
Die fremdenfeindliche Stimmung und die hohe Gewaltbereitschaft sickerten traurigerweise auch bis in die deutschen Fußballstadien durch. Einige Arenen wurden zu Hochburgen des Rechtsextremismus. Neonazis wurden Teil der Fanszene und übten dort großen Einfluss aus. Der Hamburger SV war in dieser Hinsicht keine Ausnahme - was auch durch die extrem große Anhängerschaft zu erklären ist.
Ein Verein mit Prinzipien
Fans von St. Pauli begannen zur selben Zeit, sich mit völlig gegensätzlichen Ansichten und politischen Werten zu profilieren. Viele Punks und Anarchisten gaben dem Verein einen Platz in ihrem Herzen. Der Stadtteil St. Pauli gilt als Zentrum liberaler Ideen, die Nähe zur Reeperbahn spielt wohl auch eine Rolle.
Das Viertel ist ein Zentrum des Nachtlebens, zahlreiche Clubs, alternative Restaurants und Sexshops etablierten sich dort - auch Prostitution ist an der Reeperbahn gewissermaßen Normalität. Das brachte der Gegend den vielsagenden Spitznamen “die sündige Meile” ein.
Das Stadion am Millerntor entwickelte sich zum Salon für Andersdenkende. Die linken Anhänger distanzierten sich klar vom damals grassierenden Nationalsozialismus.
Eine schwarze Piratenflagge inklusive Totenkopf diente den Fans schon damals als ausdrucksstarkes Symbol. Das Emblem fand beim Verein und den Anhängern schnell großen Anklang. Es ist ein Ausdruck von Rebellion - und passt somit ideal zum Bild des Underdogs, der sich gegen die Reichen und Mächtige sowie den allgemeinen Mainstream stellt.
Auch von der Vereinsführung wurden die Werte geteilt. Es kam zum Zusammenschluss zwischen dem Präsidium und den Rängen. Gegen hasserfülltes und rassistisches Verhalten wurde aktiv vorgegangen. Wer sich nicht an den Verhaltenskodex hielt, wurde in manchen Fällen kurzerhand des Stadions verwiesen. Der damals vereinbarte Kodex - eine Liste von Grundprinzipien - ist bis heute von den Spielern unbedingt einzuhalten.
Themen wie soziale Verantwortung, Ökologie, Wohltätigkeit und Nachhaltigen hielten Einzug in den deutschen Fußball. St. Pauli stellte erfolgreich unter Beweis, dass antifaschistische Initiativen, das Spendensammeln für Wasseraufbereitungsanlagen in Entwicklungsländern und der als roh geltende Sport keine Gegensätze darstellen müssen.
Ein besonderes Projekt war die Organisation des FIFI Wild Cups, einer “alternativen Weltmeisterschaft”. Zu dieser wurden alle Nationen eingeladen, die nicht Mitglied des Weltfußballverbandes FIFA sind. Mannschaften aus Grönland, Tibet, Sansibar, Nordzypern und Gibraltar nahmen an dem wenige Wochen vor der offiziellen WM 2006 stattfindenden Wettbewerb teil. Die Gastgeber hissten die Piratenflagge und gründeten spontan die “Republik St. Pauli”.
Passend zum rebellischen Ruf des Vereins: Die Spieler wurden nicht von Kindern, sondern von Stripperinnen aus einem nahe gelegenen Nachtclub auf das Spielfeld gebracht.
Dank seiner konsequent umgesetzten Prinzipien entwickelte sich St. Pauli zu einem herausragenden Beispiel für einen Verein, der erfolgreich gegen den Strom schwimmt. Der Kampf gegen Hass, Diskriminierung und Rassismus ist nicht zu Ende - auch dank den Kiezkickern ist für diese sensiblen Themen aber ein neues gesellschaftliches Bewusstsein entstanden.
2018 starb der Dinosaurier aus
Als die Bundesliga 1963 gegründet wurde, durfte jede Stadt nur einen Verein stellen. In Hamburg wurde dem HSV dieses Privileg zuteil. St. Pauli war unterdessen in unterklassigen Ligen unterwegs. Dementsprechend selten trafen die Vereine trotz einer mehr als 100-jährigen Geschichte bislang aufeinander. Am Freitag findet das 109. direkte Duell statt. 69 Derbys gingen bislang an die Rothosen, 24 an St. Pauli.
Lange Zeit war der HSV die einzige Mannschaft seit Gründung der Bundesliga, die nie aus der ersten Liga abgestiegen ist. Den Spitznamen “Dino” hatte sich die Raute redlich verdient. Die legendäre Uhr im Volksparkstadion, welche die Verweildauer im Oberhaus maß, musste 2018 abgenommen werden.
Seitdem scheitert der HSV Jahr für Jahr am Comeback. Dass sich der Weg mit St. Pauli umso häufiger kreuzt, ist ein schöner Nebeneffekt für alle Fans. Aus einer rein politischen wurde endlich auch eine sportliche Rivalität.