Ein Hundebiss und ein 4:4-Sieg: Revierderbys mit besonderem Erinnerungswert
06. September 1969: Schäferhund im Blut-Rausch
Hunde, die beißen, sorgen für keinen Spielabbruch. Aber sie stiften viel Verwirrung und bleiben der Bundesliga-Geschichte auf Jahrzehnte erhalten.
Es konnte nie restlos geklärt werden, wie der Schäferhund hieß, der Friedel Rausch am 6. September 1969 in den Hintern biss. Ob "Rex" oder "Blitz", da sind sich die Quellen uneinig. Klar ist jedenfalls: Die Fellnase schrieb ein Stück Bundesliga-Geschichte. Und verschaffte dem 2017 in seiner Wahlheimat in der Schweiz verstorbenen Friedel Rausch Bekanntheit weit über sein Karriereende hinaus.
Es war der vierte Bundesliga-Spieltag 68/69. Im Stadion "Rote Erde" in Dortmund herrschte ein immenser Andrang. Über 39.000 Fans waren auf den Sportplatz gepilgert. Das Stadion war vollgestopft, die Zuschauer drängten bis fast an die Seitenlinie, es herrschte ein massives Polizeiaufgebot. Auch eine Hundestaffel war anwesend. Als Hans Pirkner die Gäste in Minute 37 in Führung brachte, kannten die königsblauen Fans kein Halten mehr. Sie stürmten auf das Spielfeld, herzten ihre Spieler — sofort versuchte die Exekutive den Tumult aufzulösen.
Kein einfaches Unterfangen. Ein wild gewordener Rüde verschlimmerte alles, biss Rausch in den Po. Dem Vernehmen nach soll ein Dortmunder Ordner ihn ins Stadion geschmuggelt und später von der Leine gelassen haben. Im Jubiläumsband "40 Jahre Bundesliga" erinnerte sich die Schalker Abwehrlegende: "Riesenaufregung. Meine Hose blutdurchtränkt. Ich hörte nur Stimmen. ‚Haltet den Hund fest’. Ich wurde vom Platz getragen. Die Schmerzen waren tierisch."
Auswechslungen waren damals nicht erlaubt und von einem Spielabbruch wollte niemand etwas wissen. Rausch bekam eine Tetanusspritze, dann musste er wieder auf den Platz zurückkehren. Später bekam er 500 Mark Schmerzensgeld, vom BVB als Entschuldigung einen Blumenstrauß. Die Bundesliga veranlasste eine Maulkorbpflicht.
Andere Zeiten, andere Sitten. Was heute ein riesiger Skandal wäre, wurde damals zur gern erzählten Anekdote. Von seinen Mitspielern konnte sich Rausch keine einfühlsamen Worte versprechen. Auf die Aussage "Mensch Friedel, sei doch froh! Stell Dir vor, der hätte dich vorne gebissen…", soll Rausch geantwortet haben: "Dann hätte der Köter seine Zähne verloren." Das Spiel endete außerdem 1:1, die Borussia beendete die Saison auf Platz 5, Schalke auf Platz 9.
19. Dezember 1997: Jens Lehmann gleicht aus
Wer sich nach sogenannten Typen sehnt, sehnt sich auch ein wenig nach Jens Lehmann. Seine Pinkelpause 2009, als er im Stuttgarter Stadion mitten während des Spiels kurze Zeit hinter der Bande verschwand, blieb ebenso im kollektiven Gedächtnis hängen, wie die Mondlandung oder der Berliner Mauerfall. Lehmann war immer für erzählenswerte Anekdoten gut. Lehmann war aber auch ein herausragender Torwart. Spätestens während des Sommermärchens 2006 bewies er es der ganzen Welt.
Seine Profikarriere begann er beim FC Schalke 04. Bei seinem Heimatverein Schwarz-Weiß Essen noch lange als Mittelstürmer aktiv, übernahm er in Gelsenkirchen endgültig die Rolle des Torhüters. Überaus erfolgreich: Ab der Saison 1994/95 etablierte er sich als unumstrittener Stammspieler, 1995/96 organisierte er mit nur 36 Gegentoren die stärkste Defensive der gesamten Liga, 1996/97 gewann er zusammen mit dem Knurrer von Kerkrade — dem legendären Huub Stevens — den UEFA-Pokal.
Etliche königsblaue Fans verziehen Lehmann das vierjährige Engagement beim Erzrivalen aber kaum. Zwischen 1999 und 2003 spielte er beim BVB — eben vor jenen schwarz-gelben Fans, denen er wenige Jahre zuvor einen tiefen Stich ins Herz verpasst hatte. Am 19. Dezember 1997 erzielte er in der Nachspielzeit den 2:2-Ausgleich. Nach einem Eckstoß landete der Ball direkt vor Lehmanns Rübe. Der zögerte keine Sekunde, bugsierte den Ball ins Netz. Die Dortmunder Spieler reklamierten Abseits, doch es nutzte nichts: Schalke blieb der heimliche Sieger in einem wild umkämpften Duell.
Der damals 28-Jährige kommentierte lakonisch: "Wenn ich zwei Gegentore kriege, habe ich immer ein schlechtes Gewissen. Wenigstens habe ich auch eines gemacht." Der legendäre Schalke-Manager Rudi Assauer soll sich nach Spielende bei Lehmann beschwert haben: "Drei Tore hast du heute gemacht, Jens." Denn seinem viel umjubelten Ausgleichstreffer waren zwei grobe Patzer vorausgegangen, welche die Dortmunder Führung erst ermöglicht hatten.
14. April 2012: Dortmund besteht die Meisterprüfung
Vor dem Derby im April 2012 herrschte eine besonders hitzige Stimmung. Unbekannte Täter hatten im Vorfeld der Partie die Frontscheibe des Schalker Mannschaftsbusses eingeschlagen. Zur Mittagszeit war es zu Zusammenstößen gekommen, vermummte Schalker waren auf eine Dortmunder Fangruppe losgegangen. Die Sicherheitskräfte mussten einschreiten. Der schwarz-gelbe Faneingang war mit einer "roten Flüssigkeit", wie es im Polizeibericht heißt (mutmaßlich Schweineblut) besudelt worden.
Alles in allem, stellte die Polizei in Gelsenkirchen nach dem 2:1-Sieg der Borussia fest, sei aber angesichts "der besonderen Verhältnisse" bei einem Revierderby alles recht "unspektakulär" verlaufen. Nun ja.
Der 31. Spieltag in der 2011/12 war für den BVB von immenser Bedeutung. Würde man die Veltins-Arena mit drei Punkten verlassen, stünde der zweite Meistertitel in Folge praktisch fest. Ein Sieg auf Schalke war damals aber eine große Herausforderung: in der königsblauen Startelf standen Spieler wie Jefferson Farfan, Raúl oder Klaas-Jan Huntelaar. Nach Dortmund und den Bayern lag man souverän auf dem dritten Platz. Kanonenfutter sieht anders aus. Dementsprechend gestaltete sich der Spielverlauf. Mit einem trockenen Abschluss ins lange Eck brachte Farfan die Heimelf rasch in Führung (9.).
Lukasz Piszczek glich acht Minuten später mit einem echten Traumtor aus. Nach einem Eckstoß kam der Ball über Blaszczykowski zu Piszczek, der nahm sich ein Herz, zog aus spitzem Winkel ab — und ließ Dortmund mit einer Hand an die Meisterschale greifen. In der Folge gestaltete sich die Partie, wie sich Revierderbys eben gestalten: viele harte Zweikämpfe, ein intensives Gerangel um die zweiten Bälle. Schiedsrichter Gräfe kam aber mit verhältnismäßig wenig Gelben Karten (vier Stück) aus.
Nach dem Seitenwechsel zündete Schalke den Turbo, Huntelaar fand zwei hochkarätige Chancen vor. Immer wieder suchte Christian Fuchs mit seinen punktgenauen Flanken den "Hunter". In Minute 47 zischte der Ball hauchdünn an dessen Stirn vorbei. In Minute 55 hatte er sich gut von Hummels gelöst, schoss das Spielgerät aus kurzer Distanz aber klar über den Kasten.
Sebastian Kehl machte es trotz fehlenden Stürmer-Gens auf der Gegenseite besser: nach einem Eckball verschätzte sich Metzelder böse, der nunmehrige BVB-Sportdirektor musste den Ball nur noch hinter die Linie drücken (69.). Kehl war erst zur Halbzeit eingewechselt worden.
Der BVB brachte das knappe Ergebnis über die Zeit, gewann 2:1 und hatte drei Spieltage vor Schluss acht Punkte Vorsprung auf den FC Bayern. Ausgerechnet im Derby hatte man den Grundstein für einen souveränen Titelgewinn gelegt.
25. November 2017: Schalke und der 4:4-Sieg
Es ist aus heutiger Perspektive gar nicht so einfach, sich das vorzustellen: in der Saison 2017/18 war Schalke die zweitbeste Mannschaft der Liga, Dortmund hinkte den eigenen Ansprüchen meilenweit hinterher.
Die Königsblauen hatten sich unter Domenico Tedesco zu einem Spitzenteam formen lassen. Der aus Wolfsburg gekommene Naldo hielt hinten den Laden zusammen. Max Meyer überzeugte neuerdings als spielstarker Sechser, sein Nebenmann Leon Goretzka hatte den Sprung zum Weltklasse-Spieler gemacht. Bastian Oczipka beackerte die linke Seite mit unfassbarem Eifer. Auch die Neuzugänge Amine Harit und Nabil Bentaleb schienen gut integriert zu sein. An vorderster Front verwertete Guido Burgstaller Bude um Bude.
Anders das Bild beim BVB. Peter Bosz konnte sein bei Ajax ungeheuer erfolgreiches System nicht auf die Mannschaft implementieren. Die Abwehrkette positionierte sich oft in der gegnerischen Hälfte. Dementsprechend war es für sämtliche Gegner eine Leichtigkeit, diese mit Bällen in die Tiefe zu überwinden.
Vor dem Revierderby war man fünf Spiele hintereinander erfolglos geblieben. Man hatte sich peinliche, unnötige Niederlagen gegen Hannover und Stuttgart eingehandelt. Auch in den Spitzenspielen gegen die Bayern und in der Champions League Tottenham war man chancenlos unterlegen.
Das Momentum lag klar auf Seite der Knappen. Umso überraschender, dass der BVB im ausverkauften Signal Iduna Park von Anfang an ein echtes Feuerwerk entzündete.
In der 12. Minute erzielte Pierre-Emerick Aubameyang das 1:0. Sechs Minuten später fabrizierte Stambouli ein Eigentor. Mario Götze sollte in Minute 20 nachlegen, Guerreiro fünf Minuten später ebenfalls treffen. Nach 25 Minuten lag die Borussia mit vier Toren voran. Eine solch klare Führung nach so wenig Spielzeit — das gab es zuvor noch in keinem Revierderby.
Peter Bosz hatte sich für eine 3-4-3-Formation entschieden. Die Überraschung schien gelungen, der taktische Kniff aufgegangen zu sein. Er ging mit dem Gefühl in die Kabine, bald rehabilitiert zu werden. Doch als Deniz Aytekin das Spiel abpfiff, galt er als gescheitert, als Trainer auf Abruf. Nicht einmal einen Monat später sollte der Niederländer entlassen werden.
Domenico Tedesco hatte in der Kabine die richtigen Worte gefunden. Goretzka erklärte: "In solchen Momenten gibt es zwei Optionen: Auf die Mannschaft eintreten oder versuchen, den Spielern klarzumachen, dass man aus einer solchen ersten Halbzeit nur lernen kann." Der damals erst 32-jährige Schalke-Coach wählte die zweite Variante. Und blieb damit erfolgreich.
Dabei hatte Tedesco selbst nicht an ein mögliches Wunder geglaubt: "Wir wollten die zweite Hälfte gewinnen, dabei ging es weniger um die Höhe." Auch der damalige Sportchef Christian Heidel hatte den Glauben bereits verloren: "Nach einer halben Stunde habe ich mir gewünscht, dass der Schiedsrichter bitte abpfeifen möge."
Burgstaller machte mit einem Kopfballtreffer in Minute 61 den Anfang. Der Ehrentreffer. Harit legte in Minute 65 nach. Ein Lebenszeichen. In der 72. Minute wurde Aubameyang mit Gelb-Rot vom Platz geschickt. Auf den Rängen begann es zu knistern. Lag da etwas in der Luft? Als Daniel Caligiuri vier Minuten vor Ende der regulären Spielzeit mit einem satten Linksschuss nachlegte, schien plötzlich alles möglich zu sein. Das Stadion war wie elektrisiert, kaum jemand konnte sich auf den Plätzen halten. Und als Naldo in der letzten Minute der Nachspielzeit nach einem Eckstoß zur Stelle war, den Ausgleich erzielte — kannte die königsblaue Ekstase kein Ende.
Domenico Tedesco rannte aufs Spielfeld. So euphorisch hatte man den sonst so trocken wirkenden Deutsch-Italiener selten gesehen. Dortmund war am Boden zerstört. Am Ende der Saison sollte Schalke mit acht Punkten Vorsprung auf Hoffenheim souverän Vize-Meister werden. Der BVB beendete eine schwierige Spielzeit zumindest auf Platz vier.