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Derby-Debatte in Hamburg: Deshalb steigt der HSV auf – deshalb St. Pauli

Henri Briese / Micha Pesseg
Das Hamburger Derby: Mehr als nur ein Spiel
Das Hamburger Derby: Mehr als nur ein SpielProfimedia
Am Freitagabend geht es im Hamburger Stadt-Derby (18:30 Uhr) nicht nur darum, das eigene Revier zu markieren. Der HSV versucht seit Jahren, endlich den Sprung zurück in das deutsche Oberhaus zu schaffen. St. Pauli hat einmal wieder die Chance, den Rivalen dabei zu behindern und sich selbst noch in Position für einen möglichen Aufstieg zu bringen. Trotz der Niederlage gegen Braunschweig und der gebrochenen Siegesserie befinden sich die Kiezkicker in Top-Form. Meinung trifft auf Meinung: Wir sind für euch auf Ursachenforschungen gegangen – und erklären, warum es welches Hamburger Team dieses Jahr nach oben schaffen wird.

Es ist bereits fünf Jahre her, seit der einstige Bundesliga-Dino HSV nach Jahren inkonstanter Leistungen in der höchsten deutschen Spielklasse den Weg ins Unterhaus antreten musste.

Dem großen Drama damals folgten Jahre voller Schmerz für alle Fans der Hanseaten. In den ersten drei Saisons schaffte man es zuverlässig, den Aufstieg am Ende noch zu versammeln und sich über den 4. Platz zu ärgern.

Robert Glatzel ist der Goalgetter des HSV, Schlüsselspieler und Fan-Liebling
Robert Glatzel ist der Goalgetter des HSV, Schlüsselspieler und Fan-LieblingProfimedia

Vergangenes Jahr standen die Rothosen dann bereits mit einem Fuß in der Bundesliga. Nach dem 0:1 Sieg in Berlin brauchte es vor heimischer Kulisse nur ein Unentschieden, um im vierten Jahr die Rückkehr zu schaffen. Doch die Tore von Dedryck Boyata und Marvin Plattenhardt trafen den HSV direkt ins Herz – ein weiteres Jahr Warten. Doch in der Saison 2022/23 ist alles anders, das merken auch die Fans. Es weht ein anderer Wind – und dieses Mal wird der Aufstieg gelingen.

Zum Match-Center: HSV vs. St. Pauli

Henri: Darum wird der HSV aufsteigen

Dem Hamburger SV ist dieses Jahr eine komplett andere Mentalität anzumerken. Während man als Fan in den letzten Jahren nach einem Rückstand schon zur Lieferdienst-App greifen konnte, um nachzusehen, mit welcher Mahlzeit man sich dieses Mal den Frust von der Seele frisst, bleibt dieses Jahr jede Partie bis zum Ende offen.

Aufholjagden wie gegen Heidenheim gehören dieses Jahr zur Tagesordnung. Auch für den Gegner ist die neue Aura erkennbar. Gegen Hamburg möchte man dieses Jahr nicht spielen. Das hat zuletzt auch Hannover 96 zu spüren bekommen, die mit 6:1 gegen die Offensiv-Power der Hamburger unter die Räder kamen. Sind sämtliche Zahnräder dieser Maschinerie geölt, ist der HSV dieses Jahr nicht zu stoppen.

Fehlen aber einige Spieler, wie zuletzt Jonas Meffert gegen den FCK, kann es kritisch werden. Über die lange Distanz werden die Norddeutschen ohnehin noch einige Erfolge einfahren und damit unter den ersten beiden Plätzen in der Abschlusstabelle landen.

Der Fall Vuskovic ließ die Mannschaft näher zusammenrücken
Der Fall Vuskovic ließ die Mannschaft näher zusammenrückenProfimedia

Im Team herrscht dieses Jahr ein ganz anderer Zusammenhalt. Nicht zuletzt durch das Drama um Mario Vuskovic, welches die Mannschaft näher zusammenrücken ließ. Sie hat keine Einzelspieler mehr, die sich wichtiger als das Team machen wollen, wie etwa Problemkind Faride Alidou in der Vergangenheit. Die Truppe vom Volkspark tritt als Einheit auf, jeder ist für jeden da und so geht man auch nach der Verhandlung von Vuskovic zusammen essen (Immobile würde sich freuen).

Das reduziert die Unruhe im Team und sorgt dafür, dass sich alle auf das wirkliche Ziel – den Aufstieg in die erste Liga – konzentrieren können. Das klappt bislang sehr gut. Obwohl die letzten Wochen holprig waren, kann die Mannschaft diese Hürden meistern und wird am Ende aufsteigen.

Ebenfalls ein positiver Faktor: Endlich herrscht Konstanz auf dem Trainerstuhl. So lange wie Tim Walter war seit gefühlten Jahrzehnten kein Coach beim HSV im Amt. Kontinuität ist der richtige Ansatz. Tim Walter gefiel anfangs vielen Anhängern Hamburgs bei seinem Einstand nicht wirklich – umso geliebter ist er jetzt. Ein Übungsleiter, der an der Seitenlinie mitfiebert und sich in die Köpfe der Spieler versetzen kann, nicht bloß mit neutraler Miene am Seitenrand steht.

Einer, der auch mal arrogante Sprüche raushaut und keine Ausreden zulässt. Einer, der seiner Mannschaft darauf einschwört, die gesetzten Ziele tatsächlich zu erreichen. Eigenschaften, über die sich gerne lustig gemacht werden, die dem HSV aber gefehlt haben und sie am Ende im Gesamtpaket in die erste Liga tragen werden.

Micha: Darum wird der FC St. Pauli aufsteigen

Im vergangenen Jahr war am Millerntor noch das Abstiegsgespenst unterwegs. Nach 17 Spieltagen lag man mit ebenso vielen Zählern auf Tabellenplatz 15. Timo Schultz war bei den Fans nicht unbeliebt, häufig fehlte St. Pauli das nötige Spielglück, um enge Spiele für sich zu entscheiden. Dennoch entschloss man sich zu einem mutigen Schritt, beförderte einen 30-jährigen Nobody zum Cheftrainer. Schnell wurde klar, warum. Heute gilt Fabian Hürzeler als einer der spannendsten Traineraktien des deutschen Fußballs.

Die unfassbare Siegesserie zum Rückrundenbeginn ist bloß das Abbild eines innovativen Spielprinzips. Hürzeler traut seinen Spielern im eigenen Ballbesitz komplizierte taktische Varianten zu. Häufig endet das in blindem Idealismus. Nicht in diesem Fall.

Fabian Hürzeler ist kein bloßer Wirrkopf, der Konzepte des europäischen Spitzenfußballs auf seine Mannschaft überträgt und sie dadurch vollkommen überfordert. In eigenem Ballbesitz wird konsequent Positionsspiel betrieben. Den Spielern gefällt das, sie müssen auf dem Rasen stets konzentriert bleiben, ihnen werden aber auch die nötigen Freiheiten gewährt, um nicht die Spiel am Spiel selbst zu verlieren. Wer einen Blick in St. Paulis Erfolgshistorie wirft, weiß, dass hier Freude immer der Schlüssel zum Erfolg war.

Irvine und Co. haben wieder Spaß am Fußball gefunden
Irvine und Co. haben wieder Spaß am Fußball gefundenProfimedia

Gegen den Ball agiert man deutlich geduldiger als noch unter Schultz. Ist der Gegner nominell übermächtig, zieht man sich tief in die eigene Hälfte zurück. Was kein reines Verstecken ist. Räume werden konsequent verdichtet. Die Folge: kein naiver Hurrafußball. Sondern viele knappe, aber strategisch erkämpfte Siege. Purer Pragmatismus. Genau das, was ein Aufstiegskandidat braucht. 

Mit Hürzeler kam auch ein neues Selbstverständnis. Anstatt sich vor dem großen Lokalrivalen HSV zu verstecken, die Rolle des Underdogs dankbar anzunehmen, gibt man sich betont selbstbewusst. Zurecht: viele Spieler haben das Zeug für die erste Liga. Vom Charakterkopf und Kapitän Jackson Irvine angefangen, hin zu Leart Paqarada oder Abräumer Eric Smith, der pünktlich zum Derby wieder in den Kader zurückkehren kann. Auch die Abwehrreihe mit Jakov Medic als klarem Anführer funktioniert ausgezeichnet. Und auch Toptorschütze Lukas Daschner profitiert offensichtlich von den Spielideen seines Trainers.

Die jüngsten Erfolge vom FC St. Pauli sind kein Zufall. Sondern die logische Konsequenz einer mutigen Entscheidung. Die Niederlage gegen Braunschweig war verkraftbar, weil unglücklich. Mit einem Sieg im Stadtderby werden die Kiezhelden den Grundstein für einen erfolgreichen Endspurt und mindestens den Relegationsplatz legen.